Was für ein Schock ist es für unser psychisches System, plötzlich aus der immensen Überreizung und Hochgeschwindigkeit, die unsere Kultur uns bietet, heraus zu fallen. Erst: Bäume und Straßen, Telefonmasten und vorbeiflitzende Autos, Werbeplakate und Radiogeplärre, Handyklingeln und die einschmeichelnde Stimme des Navi’s. Gerade noch Berge von Daten, die sich aus Medien und Computern im Sekundentakt über uns ergießen, schlagende Bässe aus Lautsprecheranlagen, das Röhren tief fliegender Passagier-Jets, das Jaulen einer Polizeisirene. Überall Worte, Zeichen und Symbole, die nach unseren Augen zu greifen scheinen und den Blick einfangen wie eine hilflos taumelnde Motte …
Und dann: gar keine Worte, Geräusche nur von den Flüssen und Wind in den Bäumen, das Knistern des Feuers. Klänge der Nacht im Wald, das archaische Bellen des Rehbocks, der Ruf des Käuzchens, das Flattern der Fledermaus, das Husten des Siebenschläfers. Nur Herzschlag und Atem sind plötzlich so laut. Und winzige Käfer machen einen Lärm, dass die Phantasie Purzelbäume schlägt. Ohren, Augen, Nase und Haut öffnen sich voller Verwunderung, Farbe, Gerüche und Formen werden lebendiger, so als ob sie ihre Schalen und Schuppen hätten fallenlassen. Der Geist nimmt in tiefen Zügen ein Orchester von Eindrücken, von Kräften und Systemen wahr und in sich auf: Sterben und Wiedergeburt rundherum, ein Fluss voller Gesundheit, der frei strömt, sich leise singend an Widerständen entlang schlängelt; ein Pfad, der sich durch den Wald windet, erst hier hin dann dorthin. Ein Versprechen von Überraschung, vom Einbruch des Unerwartetem. Ein friedliches sanftes Licht zwischen den Bäumen hier, das uns vor Hoffnung lächeln lässt; dunkle Schatten, Schluchten und Sumpf dort, der uns schaudern macht und erinnert an die Abgründe unseres Herzens und den Morast dunkler Gefühle und Wunden.
Wildnis: Sie bleibt auch in Zeiten von digitalen Bildschirmen, GPS, Google Earth und fast allgegenwärtiger Erreichbarkeit der Gegenentwurf zur zivilisatorischen Kontrolle, zum Mythos der technologischen Beherrschbarkeit, zur Rundum-Sicherheit, die uns Versicherungsmakler und Innenminister versprechen – und die wir deshalb bezahlen und wählen. All das ist draußen vergessen, alle Worte und Klischees verschwimmen. „Die zivilisatorische Schicht“ so hat es der amerikanische Psychologe Robert Greenway nach langen Forschungsreisen in die wilde Natur einmal formuliert „ist nur drei Tage dick!“ Wer länger draußen aushält, landet nach und nach in einer anderen Welt. Die Masken, die wir sonst herumtragen, zerbröseln, weil sie nutzlos werden. Nicht wie wir wirken, sondern wer wir sind, gerät in den Mittelpunkt. Das Ego lockert seinen festen Griff über uns, der dauernd nörgelnde Zweifler wird leiser. Andere Sinne werden wach. „Himmel, Wolken, Regen, Licht und Schatten werden miterlebt“, sagt der Ethnopsychologe Holger Kalweit, „so, als ob man selbst diese Wolkenbewegung ist, selbst dieser Vogelflug sein.“ Es folgt eine Auflösung der Zeitempfindung und das Phänomen einer wachsenden Schönheit, seien es die Farben des Waldes oder die eigene Biographie. „Sie können in der Wildnis etwas erleben, was jeder Mensch erlebt, wenn er lange in einer langen Badewanne gelegen hat“, sagt Rolf Haubl vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt: „Die Körpergrenze löst sich auf und die Grenze zwischen mir und der Umwelt wird unscharf. Das kann Angst machen aber auch die tiefe Sehnsucht erfüllen, mit einem übergeordneten transzendenten Ganzen eins zu werden, nicht mehr isoliert, sondern Teil der Wildnis zu sein.“ Die Wildnis zu erfahren ist etwas Physisches, was der Sprache vorausgeht. Ein dauerndes Deja vu uralter Wahrnehmung, Tiefenzeit. Es sind Empfindungen, die sich den Worten entziehen und eher mit musikalischen Metaphern zu begreifen sind: Unhörbare Orchester, in denen alles richtig klingt. Töne, die mit den Saiten unserer Psyche resonieren. Da gibt es Chöre, die in dunklen Nächten entlang nebliger Flüsse zu hängen scheinen, durch die Wildnis gelegte Melodielinien. Momente, in denen der eigene Herzschlag sich nicht mehr von einem Hintergrundimpuls unterscheidet, der wie ein leises Trommeln zu uns dringt. Und manchmal schlicht der Klang gewordenen Windwirbel, der mit den Nadelzweigen spielt. Wer das erlebt, schweigt, lächelt vielleicht – und fast jeder berichtet irgendwann von dem subjektiven Gefühl, das da eine Intelligenz zu uns spricht, Weisheit wach wird in einem wortlosen Flüstern zwischen Mensch und Mitwelt.
Wilde Weisheit? Wer die Nabelschnur zur ‚Zuvielisation’ einmal durchschneidet, begegnet fraglos einem größeren Wissen, was sich jenseits aller ‚Pisa-Tests’ bewegt. Schöpfungswissen, das alles andere ist als tot, geistlos und profan, sondern ein summendes, rauschendes, bewegtes Netz des Lebens bildet. Leben, das den menschlichen Gast manchmal ebenso erstaunt betrachtet, wie wir verwundert versuchen, diese harmonisch abgestimmte, rhythmisch pulsierende und sich konstant verändernde Fülle zu erfassen. Da muss kein transzendentes Wesen herumschweben. Trotzdem wird so etwas spürbar, wie ein ‚Geist der Wildnis’, der sich wie von selbst zusammensetzt aus all den Myriaden Verknüpfungen und Interdependenzen. Dann bildet wildes Land für den, der wieder lernt zu schauen, zu lauschen und zu spüren, so etwas wie die Matrix der Schöpfung, ein Grundmuster, aus dem sich Leben gewoben hat. Eine Quelle allen Lebens, die den Menschen zeigt, wie das große Ganze tickt, wächst und sich entwickelt. Ein riechbares, schmeckendes, spürbares Modell ‚natürlicher Evolution’ von der sich die kulturelle Evolution industrieller Wachstumsgesellschaften so gefährlich weit entfernt hat. Und vielleicht ein Wegweiser, wie sich zur ‚Bewahrung der Schöpfung’ die auseinanderstrebenden Pfeile der Entwicklung von Natur und Kultur wieder zubringen ließen.
Wildnis war lange Zeit das, wo Kultur nicht war. Wildnis war das ganz andere, bedrohliche, archaische, instinkthafte. Die Wildnis war außerhalb der Siedlungen und Städte, dort wo die ‚wilden Menschen’ wohnten, die Archetypen des ‚Grünen Mannes’, der ‚Wildfräulein’ und ‚Wolfsfrauen’. Es brauchte bis ins späte Mittelalter, als die Zisterzienser und Franziskaner auszogen, Klöster in die Wildnis und Kirchen in das Dorf setzten, und mit dem Slogan ‚ora et labora’ die Wälder rodeten, das Land ‚urbar’ und seine Bewohner christlicher Sitte und Moral unterwarfen. Erst die Zivilisation erfand den Begriff ‚Wildnis’ als Abgrenzung zu dem, was noch nicht der Kontrolle unterworfen war. Und kulturgeschichtlich setzte sich ein Denken durch, dass die Wildnis als ‚unfertige Schöpfung’ charakterisierte, in der es dem Menschen oblag, Gottes liegen gelassene Arbeit zu vollenden.
Heute, wo wir die katastrophalen Folgen dieses ‚Gotteskomplexes’ immer mehr zu spüren bekommen, verändert sich der Blick auf die Wildnis. Sie wird zum Ziel von Reisen in die ‚letzten Paradiese’, zum ‚Kulturgut’, in Parks geschützt. Dort sprechen Biologen nicht mehr vom ‚Naturschutz’, sondern vom ‚Prozess-Schutz’, weil nur in der verbliebenen Wildnis abzulesen ist, wie Evolution eigentlich jenseits unserer Projektionen funktioniert. Waldkindergärten führen die Kleinsten mittlerweile schon in der hintersten Provinz an die Weisheit von Mutter Natur, Wildnisschulen vermitteln Sinnsuchern und gestressten Managern die natürliche Kunst der Kooperation. Die Erlebnispädagogik preist den Wert der Wildnis für schulisches Lernen, soziale und initiatorische Therapien nutzen die Wildnis für Persönlichkeitsentwicklung. Dahinter steht eine grundsätzlich neue kulturelle, philosophische, psychologische und soziale Bewertung des „Wilden“, der „unberührten Natur“, der „ökologischen Selbstorganisation“. Statt den Menschen als einzigen Erschaffer und Bewahrer des „Guten, Reinen, Schönen“ zu sehen und die Wildnis mit Chaos, Unordnung, Schrecken und Gewalt zu assoziieren, wird die Wildnis heute eher als ursprünglich, harmonisch, nachhaltig, selbstorganisierend, gerecht empfunden.
Kein Dach über dem Kopf, nur eine Matte und ein Schlafsack als zu Hause, und darüber die Milchstraße als Millionen-Sterne-Hotel, bedeutet all den Schutz hinter sich zu lassen, aus der die Angst vor dem Unbekannten die Zivilisation gebaut hat. Aber es gibt einen Lohn, wenn wir die Furcht vor der Wildnis überwinden. Denn auch hier wird Weisheit wach, wenn die Schutzmauern geöffnet werden und der Mensch sich von der Wildnis mit allen Sinnen berühren lässt. Sinnlichkeit heißt berühren, sehen, riechen, schmecken, heißt angezogen sein, in Beziehung treten und spüren. Sinnlichkeit ist der Begriff dafür, sich mit der Welt zu verbinden, sie uns einzuverleiben, mit ihr zu verschmelzen. Je offener die Sinne, desto mehr sind wir mit der Welt verbunden. Und je tiefer dieses Zusammenspiel geht, desto deutlicher wird aus ‚Umwelt’ plötzlich ‚Mitwelt’. Dann wird so manchem Wildnis-Pilger erstaunt deutlich, dass Wildnis nicht nur ‚da draußen’, sondern auch im eigenen Körper steckt: Dass der Mensch nicht zum Menschen wurde, um Computermäuse und Handy-Tastaturen zu bedienen, sondern um als perfekt angepasstes Wildnis-Wesen überleben zu können. Dann werden wir der Tatsache gewahr, dass in uns wilde Ströme aus Blut und Flüssigkeiten fließen, unzivilisierte Atemwinde wehen, Verdauung wie Geysire brodelt, das Unbewusste im Traum wie der ‚Geist der Wildnis’ wirkt. Dann werden Instinkte, Intuition, Sexualität, Körperwissen zur inneren ‚wilden Weisheit’, die in uns steckt und wir eröffnen können, wenn sich bei einem Gang in die Wildnis die verschütteten Zugänge sich wieder öffnen. Denn was sind wir, jenseits der zivilisatorischen Konventionen, anders als Menschnatur und Körperwildnis.
Es ist das symbolische Zusammenspiel zwischen Innen und Außen, dass bei einem Aufenthalt in der Wildnis die vielen Ebenen der Weisheit weckt. Kein trockenes Wissen, an das wir glauben müssen, sondern als Erfahrung, die so tief wirkt, weil sie mit dem ganzen Körper, dem Geist und der Seele Innen und Außen erlebt wurde. Nach und Nach erkennt auch die Biologie, die Wahrnehmungsforschung und Psychologie, dass wir die Wildnis brauchen, um ganz Mensch zu sein können. Dass sich im Spiegel der Natur die Landschaft der Seele formen und entwickeln kann. Dass die wilde Vielfalt der Natur dem komplexen Wesen Mensch viel mehr entspricht als einfältige Monokulturen. Draußen spricht jedes Schlammloch vom Sumpf der Gefühle, jedes Baumpaar von der Sehnsucht nach Liebe, jedes Todholz von ‚Stirb und Werde’, jedes Gewitter von Kontrollverlust, jeder Schmetterling von Transformation, jeder Sonnenaufgang von Hoffnung. Auch in dieser Ganzwerdung liegt Weisheit – und eine Rückverbindung, die manche vom Wort ‚religio’ herleiten. „Mir scheint die Sehnsucht nach Wildnis in der Tat eine religiöse Sehnsucht zu sein“ sagt deshalb der Religionswissenschaftler Michael v. Brück.
Ein Pilgergang, ein Retreat, eine Auszeit in der Wildnis kann Weltbilder ins Rutschen bringen, weil die Selbstorganisation dort draußen viel weiser scheint, als alle wackeligen kulturellen Konstruktionen. In ihr lässt sich erkennen, wo wir herkommen, welche Rolle im Netz des Lebens wir spielen, wo wir stehen auf der Reise durch das Leben. Die Wildnis öffnet tiefste Fragen und fordert Arbeit an den Antworten. Sie vergewissert den Menschen seiner Selbst, zwingt zur Rückkehr auf das Wesentliche, fordert Präsenz und Achtsamkeit gegenüber dem Geheimnis des Lebens. Sie bricht ein für allemal mit der zivilisatorischen Lüge, dass wir getrennt wären von der Natur und beendet jeden Anthropozentrismus, der allein den Menschen an die Spitze der Schöpfung stellt. Weisheiten, die vielleicht nicht jedem gefallen, weil sie – einmal erkannt – uns nicht weiterleben lassen wie bisher. Es ist eine emanzipatorische Weisheit für den überkulturierten Menschen, die da aufbricht. Frei von Ideologien und vielleicht nur in der Sprache einer Poesie zu fassen, die der Literat D.H. Lawrence gefunden hat:
„Wenn wir wieder in die Wälder gehen, werden wir zittern vor Kälte und Furcht. Doch wir werden Dinge erleben, so dass wir uns selbst nicht mehr kennen; kühles, wahres Leben wird sich auf uns stürzen, und Leidenschaft wird unseren Körper mit Kraft erfüllen. Mit neuer Kraft werden wir aufstampfen und alles Alte wird abfallen. Wir werden lachen, und Gesetze werden sich kräuseln wie verbranntes Papier.“
Geseko v. Lüpke, www.frei-verbunden-sein.de