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Weder Dogma noch Weltflucht sondern inneres Wachstum

„Spiritualität sollte weder neues Dogma noch Weltflucht sein, sondern radikale und ehrliche Arbeit an sich selbst.“

(Thomas Eisinger)

 

Eines der bekanntesten Zitate von Albert Einstein lautet: „Man kann Probleme nicht auf derselben Ebene lösen, auf denen sie entstanden sind.“ Dies könnte in die richtige Richtung weisen: Denn wenn die derzeitige Ordnung der Welt all die bekannten Probleme hervorbringt, dann können sie nicht auf dieser Ebene gelöst werden. Was aber ist „diese Ebene“? Wäre es möglich, dass die Ebene, auf der all die Verwerfungen entstanden sind, die Ebene unserer Art zu denken und zu fühlen ist? Dass unsere archaischen Bedürfnisse und Triebe, unser Wunsch nach Zugehörigkeit — der zu teils absurder Konformität führt —, zu dieser zu überwindenden Ebene gehört? Ebenso wie der Wunsch nach Autoritäten, die dem Einzelnen Führung und sogar Sinn geben? Wenn dem so ist, dann kann die herbeigesehnte Veränderung, die neue Ebene, nur darin bestehen, dass wir uns selbst verändern. Natürlich hört man dies sehr oft: „Sei selbst die Veränderung, die du dir wünschst in der Welt.“ Doch wer nimmt das wirklich ernst?

Wer richtet sein Leben nach ganz anderen Gesichtspunkten aus, als es uns die materialistische und autoritative Weltsicht scheinbar gebietet? Es sind, wenn überhaupt, diejenigen, die abwertend als Esoteriker bezeichnet werden. Wenigstens einige von ihnen.

Ein wesentlicher Vorwurf der Passivität der „Esoteriker“, die sich zurücklehnen, meditieren und warten, bis die „geistige Welt“ unsere Probleme lösen wird. Dies wird manchmal als „spirituelles Bypassing“ bezeichnet und beschreibt, wie Menschen spirituelle Praktiken oder Überzeugungen nutzen, um unangenehme Emotionen zu vermeiden, ebenso wie innere, psychologische Arbeit oder die Auseinandersetzung mit Problemen in der Welt. Dabei werden spirituelle Konzepte wie „Alles ist Liebe“, „positives Denken“ oder „Loslassen“ verwendet, um schwierige Gefühle wie Wut, Traurigkeit oder Angst zu unterdrücken oder zu ignorieren. Dies trifft sicher auf einige Menschen zu.

Überhaupt scheint es so, dass wir individualistisch geprägten Westler uns aus allen möglichen östlichen Lehren bedienen — Yoga, Tantra, Buddhismus, Hinduismus … —, um jeweils das interessanteste auszuprobieren. Nur um dann festzustellen, dass man die Erleuchtung doch noch nicht erlangt hat, obwohl man bereits soundso viele Seminare besucht hat, um sich anschließend dem nächsten Trend zuzuwenden.

Dies zeigt zweierlei: eine weit verbreitete Orientierungslosigkeit und ein großes Verlangen. Verwundern kann das nicht. Denn mindestens 5.000 Jahre lang waren Religion und Kultur für jeden Einzelnen vollkommen klar und festgelegt, definiert von dem Ort und dem Volk, wo er oder sie lebte. Heute leben wir zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte (!) in einer Epoche, in der es dem Einzelnen freisteht, seinen ganz eigenen Zugang zur Spiritualität zu suchen und zu finden. Es ist dies vielleicht die größte Herausforderung, der sich ein Mensch stellen kann, losgelöst von Tradition, Kirche und Kultur seinen ganz eigenen Weg zur Transzendenz zu finden! Eine Aufgabe, der sich in den vergangenen Jahrhunderten nur Auserwählte stellten, von denen wir heute noch aus überlieferten Schriften wissen.

Doch dies wird jetzt von jedem einzelnen Menschen verlangt — besser gesagt: er oder sie verlangt es von sich selbst. Und zwar nicht in der Abgeschiedenheit eines Klosters, angeleitet von weisen Meistern, sondern hier, mitten in unserer materialistischen Welt. Vor jedem, der sich auf den Weg macht, liegt seine ganz eigene, außergewöhnliche Heldenreise. Die Berichte jener, die bereits eigene Erfahrungen gemacht haben, können von denen, die noch nicht so weit gekommen sind, kaum verstanden werden. Denn eines zeigt die Reise ganz klar: Mit dem Verstand kommt man nicht sehr weit. Menschen, die einen spirituellen Aufwachmoment hatten, können ihr Erlebtes kaum oder gar nicht in Worte fassen. Denn das, was erlebt wurde, entzieht sich vielfach unserer Begrifflichkeit.

„Nur Du allein schaffst es, doch Du schaffst es nicht allein.“ (Quelle unbekannt)

Sich dessen gewahr zu werden, ist ein erster Schritt. Und er macht demütig angesichts unserer Vermessenheit, alles mit unserer Ratio erforschen und verstehen zu wollen. Diese Aufgabe, die uns das Leben stellt, ist für den Einzelnen ohne Unterstützung nicht zu bewältigen. Ein weiterer Grund für ehrliche Demut. Um allein an diese Erkenntnis zu gelangen, können Jahre vergehen, vielleicht Jahrzehnte. Jedenfalls für diejenigen, die sich auf den Weg machen. Wer den Weg nicht einschlägt, weiß von alledem gar nichts.

In der zehntausendjährigen Kulturgeschichte der Menschheit haben wir heutigen Planetenbewohner in großer Zahl den Kontakt zum Höheren verloren. Nicht nur das: Wir haben auch verlernt, geeignete Methoden anzuwenden, um in Verbindung zu kommen. Seien es Rituale, Gebete, Tränke oder bewusstseinserweiternde Substanzen (Entheogene) — jede Kultur hatte und hat ihre Möglichkeiten, mit der geistigen Welt in Kontakt zu kommen.

Die Kirchen dagegen haben es verstanden, die Menschen von eigenen authentischen Erfahrungen abzuhalten.

All ihre Zeremonien und Rituale vermögen es kaum, die Gläubigen mit der wahren Christus-Energie zu verbinden. Sie dienten und dienen vielmehr den Mächtigen, in deren Dienst sie ihre Schäfchen zu folgsamen Lämmern formen. Ihr Verhalten während der Pandemiejahre spricht Bände.

Das Schmerzhafte ist tatsächlich, dass es derzeit keine breit akzeptierte positive Vision für unsere Zukunft gibt. Womöglich ist dies jedoch ein Problem der Zeitabschnitte. Welche Vision einer besseren Welt hatten die Menschen in Europa während des Ersten oder Zweiten Weltkriegs, als die Verhältnisse um ein Vielfaches grausamer waren als heute? Wie wird unsere Zeit einmal aus 100 oder 1.000 Jahren Distanz gesehen werden? Dafür fehlt uns jede Vorstellung. Außer dass man das sattsam bekannte Mantra wiederholt: „… wenn es die Menschheit dann noch gibt“. Ein Mantra, das mehr zur Passivität einlädt als alles andere, denn im Kern bedeutet es:

„Der Mensch ist so böse und zerstörerisch, dass er sich selbst vernichten wird. Er verdient es gar nicht, zu überleben, geschweige denn, gut zu leben.“

Es ist eine Position, die vom Elitenzirkel des Club of Rome in den 1970er-Jahren ausgeheckt wurde: „Der wahre Feind des Menschen ist der Mensch selbst.“ Wer diesen Gedanken verinnerlicht hat, ist bereits in die Falle gegangen. Diese lebensfeindliche Grundhaltung ist sicher auch eine Ursache dafür, dass es unzählige Dystopien (Untergangsszenarien) gibt und so wenige positive Erzählungen. Wie gelangen wir also zu einer positiven Vision?

Als Erstes, indem wir aufhören, danach zu suchen. Denn sie kann nicht erdacht werden, sie wird er-lebt werden. Es geht um den Prozess, dessen Teil wir alle sind. Und zu diesem Prozess gehören vier Säulen, die der amerikanische Philosoph und Weisheitslehrer Ken Wilber so benannt hat: „wake up, grow up, clean up, show up“. Also: Aufwachen, Aufwachsen, Arbeit an der eigenen Psyche und Sich-Zeigen.

Es braucht also zunächst ein doppeltes Aufwachen: aus dem materialistischen Weltbild und aus der polit-medialen Illusionsmaschine.

Dann die innere Arbeit, um auf höhere Bewusstseinsebenen zu gelangen. Zugleich die „Reinigung“ innerpsychischer Knackpunkte, oft als Schattenarbeit bezeichnet. All dies hat nichts mit dem Ego-Tod zu tun, sondern ist ein Wachstumsprozess. Und wenn man in diesem Prozess ein wenig fortgeschritten ist, dann kann man sich auch zeigen, mit all seinen authentischen Erfahrungen. Denn zwischen Rückzug und Realitätsflucht einerseits und echter innerer Arbeit andererseits besteht ein grundsätzlicher Unterschied.

Wer tiefe Erfahrungen — sei es durch Meditation, Körperarbeit oder auch bewusst eingesetzte psychedelische Substanzen — ernst nimmt, wird früher oder später mit sich selbst konfrontiert. Und genau hier beginnt der entscheidende Punkt: Integration. Integration ist kein Service, den man konsumiert. Sie ist kein Nachbereitungspaket, das ein Coach oder Mentor liefert. Und sie ist nicht die Erwartung, dass jemand im Außen weiß, was als Nächstes zu tun ist.

Wirkliche Integration beginnt dort, wo ein Mensch Verantwortung übernimmt — für seine Gedanken, seine Handlungen, seine inneren Prozesse. Es ist der Weg zurück in die Welt, mit offenem Herzen, klarem Blick und der Bereitschaft, sich selbst und anderen wirklich zu begegnen.

Es ist klar, dass es nichts Individuelleres geben kann als diesen Prozess. Jeder Wunsch nach einem schnellen Durchlauf mag verständlich sein, ist aber illusorisch. Es ist eine Lebensaufgabe. Wenn dies enttäuschend klingt, so gibt es doch auch eine Tatsache, die zu Hoffnung Anlass gibt: Je mehr Menschen sich auf den Weg machen und je mehr Erfahrung in dieser Weise entsteht, desto einfacher wird es für alle, die sich künftig auf diesen Weg begeben. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob die gesammelte Aufmerksamkeit auf den Untaten von Politikern, Mächtigen und Kriegstreibern liegt oder ob sich diese kostbare Ressource auf etwas anderes richtet: das eigene Wachstum im Zusammenspiel mit anderen, die ebenfalls auf dem Weg sind und vielleicht schon das eine oder andere Projekt realisiert haben.

Abschließend noch der Versuch einer Antwort auf die Frage: „Aber was soll man dann tun angesichts all der Ungerechtigkeiten?“ Es ist dies vielleicht die schwierigste Frage von allen. Denn dass vieles in der äußeren Welt derzeit in die falsche Richtung läuft, steht außer Zweifel. Doch wer sagt uns, was das Wahre, das Wirkliche ist? Wissen wir es selbst schon? Wofür können wir selbst schon die Hand ins Feuer legen, dass wir es als die letzte Wahrheit vertreten können? Wer durchschaut alle Schichten der Illusionsmatrix und kann erkennen, was hinter allem liegt?

Das Leben lädt uns ein, voll teilzunehmen — mit allem, was wir sind. Nicht um uns zu optimieren, sondern um uns zu erinnern. An das, was wirklich zählt: Beziehung. Präsenz. Verantwortung. Wahrhaftigkeit.

Thomas Eisinger, www.manova.news