Mutterboden

Von Kerstin Chavent

Für die meisten Menschen ist die Erde eine Art Unterlage, auf der wir machen können, was wir wollen. Tatsächlich ist sie ein lebendiger Organismus, der uns trägt und nährt. Die Erde, das wissen die Urvölker des Planeten, ist unsere Mutter, eine Mutter, die alle ihre Kinder liebt. Ihre Verbindung zu uns ist noch intakt, sonst wären wir längst nicht mehr hier. Es ist an uns, diese Verbindung auch von unserer Seite aus neu zu beleben und uns daran zu erinnern, woher wir kommen.
Seit Langem hält sich der Trend, immer mehr zur Monokultur überzugehen. Der reichste Mann, die schönste Frau, der beste Fußballer. Wo wir auch hinschauen: Es kann nur einen geben. Ein schlimmstes Killervirus, einen, der die gesamte Welt bedroht, einen Grund für den Klimawandel, eine Eine-Welt-Regierung, die uns aus dem Schlamassel wieder herausholt. Alles spitzt sich auf einen Punkt zu. So wie oben, so ist es unten. Die Artenvielfalt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten drastisch reduziert. Eine Million von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Jährlich werden 13 Millionen Hektar Wald vernichtet. In Deutschland ist die Pflanzenvielfalt in den vergangenen Jahren um 15 Prozent zurückgegangen.
Das Problem der Abnahme der Biodiversität liegt vor allem in der auf reine Produktivität ausgerichteten Landwirtschaft. Monokulturen, hohe Düngeraten und die Benutzung von Pflanzenschutzmitteln wie Glyphosat führen zum Verlust von Hecken, Bäumen sowie Brachflächen und entziehen den wilden Tieren damit ihren Lebensraum. Auch das weltweite Nahrungssystem lässt immer mehr Tier- und Pflanzenarten verschwinden. Natürliche Ökosysteme wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten zunehmend in Acker- und Weideland verwandelt. Hier sind es vor allem die Folgen des Anbaus von Billiglebensmitteln, die die Artenvielfalt reduzieren. Entsprechend sieht es in unseren Körpern aus. Auch die Artenvielfalt unseres Mikrobioms hat sich drastisch reduziert. Unsere Darmlandschaft, Sitz unseres Immunsystems, ist heftig in Mitleidenschaft gezogen und empfänglich für alle möglichen Arten von Zivilisationskrankheiten. Sie sind heute die größte Epidemie der Menschheit und Hauptursache von Berufsunfähigkeit. Da es auch immer nur ein Thema geben kann, interessiert dieses hier gerade nicht. So wird der Boden unter unseren Füßen immer ärmer.
In den vergangenen 40 Jahren sind 33 Prozent der weltweiten Ackerflächen durch Verseuchung und Erosion verloren gegangen. Bereits im Jahre 2019 bekamen etwa 3,2 Milliarden Menschen auf der Welt die oft tödlichen Folgen durch Ernteausfälle zu spüren.
Doch die Schuld an der Misere wird nur einem in die Schuhe geschoben. Und nur einer kann uns retten. Der Microsoft-Gründer, Philanthrop, Experte für Klimawandel, Hunger und Viren ist auch der größte Ackerlandbesitzer in den USA. Wenn die Getreidelieferungen aus der Ukraine ausfallen, springt er großzügig ein. Er hat nicht nur die Kontrolle über die weltweite Produktion und Lagerung von Saatgut übernommen, sondern baut zum Wohle der Menschheit auch sein erstes Atomkraftwerk.
Dass so viele Fäden bei einem einzigen Mann zusammenlaufen, hat mehr als nur einen Grund. Einer davon ist unser Verhältnis zur Natur und zu unserem Planeten. Die Erde dient uns gewissermaßen als Unterlage dafür, Sachen anzubauen. Wir sehen in ihr nicht das lebendige Wesen, die großzügige, lebensspendende Mutter, die alle ihre Kinder nährt. Denn täten wir das, würden wir die Erde anders behandeln. Welcher Mensch würde seine eigene Mutter vergewaltigen?
Die indigenen Völker haben einen Namen für die Erde: Pachamama. Sie ist die große Urmutter allen Lebens. Aus ihr entspringt alles. Auch wir haben ein Wort, das uns daran erinnert: Mutterboden. Es ist die Bezeichnung für die obersten 30 Zentimeter Erde. 500 Jahre braucht es, bis sich zweieinhalb Zentimeter Mutterboden bilden. Auf dem Weg ins Grundwasser durchdringt das Regenwasser diese Schicht und die Erde löst Nährstoffe heraus. Unzählige Mikroorganismen leben hier. In einer einzigen Handvoll Waldboden gibt es mehr Lebewesen als Menschen auf der Erde.
Der Mutterboden, eine Mischung aus mineralischen und organischen Stoffen, Gesteinssedimenten, verrottenden Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen, ist wie die atmende Oberfläche unseres Planeten. Bis zu 10.000 verschiedene Arten lebender Organismen wirken in einem Quadratmeter Erde daran mit, den Humus zu bilden, der für den Kreislauf des Lebens unverzichtbar ist. Regenwürmer, Termiten und andere Bodenorganismen durchwühlen die oberen Schichten des Bodens und lockern ihn so auf, dass Wasser eindringen und gespeichert werden kann. All diese lebendigen Organismen, die unser Auge weder sieht noch würdigt, arbeiten daran, dass wir leben können. Im Gegenzug bezeichnen wir Erde als Dreck, so wie wir die Kräuter am Wegesrand als Unkraut bezeichnen.
Um unsere Erde vor dem totalen Ausverkauf zu bewahren und uns nicht endgültig unsere Lebensgrundlage nehmen zu lassen, braucht es ein erneutes Bewusstsein für den Wert des Mütterlichen, Nährenden, Fürsorgenden.
Wir müssen uns daran erinnern, woher wir kommen. Leben entsteht nicht im Labor, sondern aus einem Samenkorn, das auf fruchtbaren Boden fällt. Wird diesem Nährboden die Fruchtbarkeit entzogen, dann ist die Tür geöffnet für das künstliche Leben und die posthumane Ära, in der kein Platz mehr ist für das Natürliche.
In der Kosmologie der Maya ist es die Spinne, die die Große Mutter symbolisiert, die Göttin allen Lebens. Ihr Netz ist das Gewebe, das Raum und Zeit zusammenhält. Auch in den Schöpfungsmythen der Hopi und der Navajo ist die Schöpferin des Universums eine große Spinne.
In ihrem Buch The wild wisdom of weeds erzählt Katrina Blair, wie der große, dicke Bauch der Spinne alles enthält, was es im Universum gibt. Doch die Spinne fühlte sich allein. Ihre Einsamkeit brannte wie Glut in ihr und wurde zu einem Feuer, so heiß, dass ihr Bauch schließlich platzte und sich die in ihm enthaltene Vielfalt ins Universum ergoss. Obwohl jedes Lebewesen einzigartig war, fühlten sie sich als eine Familie, die von der großen Mutter abstammte. Sie lebten in Freude und Gesundheit und die Welt war ein Ort voller Harmonie und Frieden.
Eines Tages jedoch begann etwas, sich aus dem großen Geben und Nehmen herauszutrennen. Aufrechtgehende Zweibeiner begannen, Tiere einzusperren, Wasser und Böden zu vergiften und die Natur zu kontrollieren. Die große Spinne war darüber sehr betrübt. Als sie sah, was die Menschen anrichteten, entstand in ihrem Bauch erneut ein Feuer. Zum Neumond öffnete sie sich und es ergossen sich Abermillionen Samen von wilden Kräutern über die gesamte Erde. Diese Kräuter hatten die Fähigkeit, überall zu leben, trotz Kälte, Dürre und Zerstörung. Als aus den Samen starke Pflanzen geworden waren, hatten diese die Gabe, den Menschen ihre Kraft zurückzugeben. Denn sie erinnerten sie an ihre Herkunft.
Zunächst bemerkten die Menschen die wilden Kräuter kaum, die vor ihren Füßen wuchsen. Doch mit der Zeit fingen sie an, sie zu sammeln, sie zum Essen und als Medizin zu (be-)nutzen. Und so erinnerten sie sich schließlich an den Faden, der zurück bis zu ihrer ursprünglichen Herkunft reicht. Die Kräuter, von denen die Erzählung spricht, kennt jeder. Löwenzahn heißen sie und Malve, Wegerich, Vogelmiere, Sauerampfer, Distel, Klee, Gänsefuß und Portulak. Diese Pflanzen wachsen überall. Die kleinen, unscheinbaren Mauerblümchen haben die Kraft, die Welt wieder zu einem blühenden Garten zu machen. Denn Unkraut vergeht nicht. Es durchdringt selbst den Asphalt. Es ist unkontrollierbar und nicht zu patentieren.
Die Kräuter stehen am Wegesrand und erinnern uns daran, wie viel Kraft in den zyklischen Abläufen des Lebens steckt. Sie geben uns Hoffnung und nehmen uns die Angst, denn sie zeigen uns: Es gibt keinen Mangel.
Alles ist im Überfluss da. Alles ist Kreislauf. Nur genveränderte und patentierte Samen müssen jedes Jahr neu gekauft werden. Wildpflanzen bringen Samen hervor, aus denen heraus von Jahr zu Jahr neues Leben entsteht.
In dem Moment, in dem der Samen stirbt, wird die Pflanze geboren. Wer das erkennt, der fürchtet weder Mangel noch Tod. Er ist unbesiegbar. Er lässt sich nicht einfangen von den Geschichten der Angst, die überall erzählt werden. Er erinnert sich an die alten Geschichten des Lebens. Tief in sich spürt er die Wurzeln, die ihn mit seiner Mutter, der Erde, verbinden. Ihm ist, als wüchse er in die Erde hinein, durchdringt den Humus, den Stein, das Wasser und gelangt schließlich zum Feuer, das im Inneren der Erde brennt. Immer weiter geht er in seiner Vorstellung, immer weiter in das Innere des Planeten. Ein lebendiges Wesen ist es, das ihn trägt und nährt. Die Erde atmet und fühlt. Und sie hat ein Herz. Aus klarem Kristall ist es, so scheint es ihm, rein und durchsichtig. Es schlägt auch für ihn. Voller Dankbarkeit und Ehrfurcht spürt er die Verbindung, spürt, wie das Herz der Erde in ihm schlägt, und weiß, was er jetzt zu tun hat.

Kerstin Chavent, www.rubikon.news