Anfang der 80er Jahre stand die Welt schon einmal gefühlt am Abgrund eines Weltkrieges. Damals wurden US-Mittelstreckenraketen in Europa stationiert, es kam zum Nato-Doppelbeschluss. Ich selbst und viele andere meiner Generation lebten in Angst vor dem unausweichlich scheinenden Atomkrieg, es gab die großen Bonner Friedensdemonstrationen. Ich musste aber mehr tun, um der Angst in mir Herr zu werden: Auf der Suche nach etwas, was stärker war als Krieg, verließ ich die geplante Laufbahn und wurde Teil einer Gemeinschaft, die sich auf Liebe ausgerichtet hatte. Diesem Weg bin ich mit allen Wandlungen bis heute treu. Der vorliegende Text ist auch eine Reflexion dieser Entscheidung.
Krieg ist das Schändlichste, Zerstörerischste, Idiotischste, was der Mensch hervorgebracht hat. Krieg löst keinen Konflikt, zerstört Vertrauen, Wahrheit, Ehrgefühl, menschliche Werte, Respekt, Heimat. Krieg tötet Kinder, traumatisiert ganze Generationen und bringt auf lange Sicht allen Seiten Nachteile.
Obwohl sich die meisten Menschen, Gruppen, Länder und Institutionen offiziell für Frieden aussprechen, entscheiden sie sich bis heute doch immer wieder für Krieg. Nach den schlimmsten Opfern sind sie kurz bereit, Lösungen zu finden. Doch die ungelösten Konflikte schwelen weiter. Und schließlich reicht ein Zündfunke – oft in Form von gezielten Lügen und Manipulation –, um Kränkung und Eigendünkel anzufachen und in Gewalt explodieren zu lassen. Warum, verdammt noch Mal, haben wir schon wieder Krieg in Europa? Und wie können wir Kriege wirklich beenden?
Im Grunde hatten die Hippies recht mit dem Satz: Make love, not war! Wo wir nicht lieben, sind wir – potentiell – im Krieg. Das muss nicht heißen, dass wir Krieger werden oder Bomben werfen. Aber es heißt, dass wir an bestimmten Stellen in uns nicht lebendig sind, sondern verschlossen und taub. Wir können meistens nichts dafür, dass wir so geworden sind – niemand kommt unbeschadet durch die Kindheit. Wir alle tragen Schrammen von Lieblosigkeit und Gewalt auf unseren Seelen. Aber wir können sehr wohl etwas dafür, wenn wir so bleiben, wie wir sind.
Eine Weile können wir auch ohne Liebe alles dafür tun, uns anständig zu verhalten. Manch einer leistet dabei Großartiges an Ethik, Selbstdisziplin und Hilfe. Aber dann – zunächst sehr subtil – wird sich die taube Stelle in uns melden. Denn Lieblosigkeit lässt sich nicht für immer wegstecken. Wo wir nicht lieben und nicht heilen wollen, geben wir das Schönste in uns auf. Diese Stelle wird sich ausbreiten und einen Schatten bilden. Im Schatten sind wir nicht unschuldig oder nett, sondern böse und hochfunktional. Das heißt: gnadenlos gewaltvoll gegen das, was wir eigentlich lieben wollen, gegen alles, was liebt, und gegen uns selbst. Die Schatten verbünden sich und bilden eine Art von Normalität oder zweiter Realität – ganz so, als wären all die gegenwärtigen Einrichtungen von Zwang, Profit, Ausbeutung, Gleichgültigkeit, Krieg normal.
Das ist der Christusmord, den Wilhelm Reich beschrieben hat. Wer Christusmord in sich begeht, wird zum Untertan eines Systems der Lieblosigkeit. Krieg widerspricht so tief allen vernünftigen Lebensinteressen, dass es ihn nicht gäbe, wenn uns das lebensfeindliche und liebesferne System nicht zeitlebens darauf programmiert hätte. Eine Kinderseele, die schon früh und immer wieder für ihre Öffnung und Liebe bestraft wurde, empfindet in ihrer Qual sogar Erleichterung durch Aggression und Gewalt.
Es gibt aber zwei gute Nachrichten: Wir können uns in jeder Situation für Liebe entscheiden und die Liebe ist sehr viel stärker als alles andere. Stärker als Gleichgültigkeit und Gewalt. Stärker als alle Zerstörungssysteme. Wer jetzt nur an die korrumpierte Schlager-Kitsch-Liebe denkt, kann das natürlich kaum glauben. Liebe ist viel mehr. Liebe ist gefühlte, aktive Verbundenheit in einem größeren Ganzen. Liebe bedeutet, miteinander und beieinander zu sein, aktiv füreinander da zu sein, Aufmerksamkeit für den anderen zu haben, hinzuschauen, den anderen in all seinen Aspekten zu sehen und das Beste für uns alle zu wollen und etwas dafür zu tun.
Liebe heißt, dem Liebesimpuls für einen anderen Menschen zu folgen – egal, ob er es unserer Meinung nach verdient hat oder nicht. Liebesimpulse gehören zum Effektivsten, was es gibt: Sie können aus Geschenken jenseits aller Berechnung, aus Vergebung jenseits aller Schuld, aus Kontakt über alle Abwehrgrenzen hinaus bestehen – sie sind unberechenbar und entwaffnend. Der stärkste Krieger hat in sich eine „Schwach-“stelle, wo er berührbar ist. Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann wird sie ihn daran erinnern, was oder wer er eigentlich sein möchte. Dann kann er sich neu entscheiden.
In Liebe meinen wir den anderen, wie er wirklich ist, und nicht das Bild, das er von sich darstellt. In Liebe erkennen wir ihn immer tiefer. Liebe ist dabei nicht immer sanft, sie durchdringt alles. In Liebe können wir dem Gegenüber unseren Schmerz und auch unsere Wut darüber zeigen, dass er sein eigentliches Wesen so verstümmelt und misshandelt – und ihn damit nicht allein lassen. In Liebe können wir ihm Grenzen setzen und ihn so unterstützen, eine neue Entscheidung zu treffen – für sich selbst, für die Liebe, gegen den Krieg. Stellen wir uns nur vor, wie viel stärker die Systeme und Bündnisse sind, die die Liebe bildet!
Nicht immer wird Liebe angenommen. Wer Untertan des Kriegssystems geworden ist, wer sich angepasst und aufgegeben hat, den wird Liebe nerven und stören, ja, er wird sie als Angriff verstehen. Denn sie erinnert ihn daran, wer er eigentlich ist. Er wird sie abwehren, als schäbig oder nicht genug darstellen.
Doch wir sind nicht verantwortlich dafür, was der andere mit unserer Liebe macht. Wir lieben – und jetzt heißt es, für unsere Liebe Verantwortung zu übernehmen und in Liebe zu bleiben, selbst wenn wir dafür angegriffen werden. Das kann weh tun, den Schmerz müssen wir nicht wegdrücken. Schmerz zu fühlen, ist kein Zeichen von Schwäche, im Gegenteil: Öffnung, Fühlen, Liebe, Vergebung, Güte und Mitgefühl sind Haltungen der Kraft. Aggression, Arroganz, Gleichgültigkeit dagegen sind Zeichen von Verletzung, Schwäche, innerem Rückzug.
Wie sieht das im alltäglichen Leben aus? Für mich bedeutet innere Friedensarbeit, Angst mit Liebe zu begegnen. Ein Beispiel: Ich habe Angst vor potentiell faschistischen Menschenaufläufen. Viele Jahre habe ich in Dörfern gelebt, wo ich zu den Neuen und Fremden gehörte, gegen die sich Misstrauen und Beschuldigungen richteten. Über uns wurde schlecht gesprochen, wir wurden ausgegrenzt, Steine wurden in Fenster geworfen. Das macht mir immer noch Angst. Friedens-Liebes-Arbeit bedeutet, so viel wie möglich auf die Menschen zuzugehen, sie ins Gespräch zu bringen, mich zu zeigen, Zeit mit ihnen zu verbringen, ihren Standpunkt zu verstehen sowie meinen eigenen Standpunkt klarzumachen. Das ist nicht immer einfach oder angenehm, aber es ist praktizierte Liebe, die wirkt – egal ob sie gleich angenommen wird oder nicht. Und nur durch Kontakt erkenne ich, wo meine Angst Ergebnis einer Projektion ist und wo sie meine Wahrnehmung realer Gewaltandrohung ist.
Liebe und Freude sind ganz offensichtlich stärker als Angst und Gewalt. Warum ist das so? Weil Liebe und Freude die Richtung unserer Evolution sind. Je mehr wir in Liebe und Freude sind, desto echter, wirksamer, umfassender und größer sind wir. Denn in Liebe und Freude sind wir verbunden mit der Kraft der Evolution. Diese mag sich anfangs noch schwach und vereinzelt anfühlen, so wie das erste Grün im Frühling auch noch sehr zart ist. Aber sie ist auf lange Sicht unbesiegbar.
Es wird Zeit für eine weltweite Widerstandsbewegung gegen das System von Lüge, Angst und Krieg. Für eine Bewegung, die an vielen Orten der Erde die Realität der Liebe ergreift, verwirklicht, lebt, verkörpert. Es gibt entsprechende Menschen und Gruppen bereits an einigen Orten der Erde. Aber sie erkennen sich noch nicht, denn sie wirken noch sehr unterschiedlich und benutzen oft eigene Signale und Worte. Sie arbeiten noch nicht zusammen und haben sich noch nicht auf eine gemeinsame Richtung geeinigt. Aber daran arbeiten wir, und an unseren Taten und unserer Liebe werden wir uns erkennen. Ich glaube, das wird ein wunderbares Erwachen, das Morgenlicht in einer neuen Zeit.
Christa Leila Dregger,
leila.dregger@tamera.org
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