Der chinesische Tierkreis besteht aus zwölf Zeichen, die jeweils einem anderen Tier zugeordnet sind. Die Ratte ist das erste Tier und hat damit gewissermaßen, ähnlich wie der erste Sohn in der Familie, den höchsten Rang, es leitet immer einen neuen Zyklus ein, der die nächsten zwölf Jahre bestimmt. Ratten stehen in China für höchste Intelligenz und die Fähigkeit, dank dieser Intelligenz auch in schwierigsten Situationen zu überleben. Wenn es Säugetiere gibt, die einen Atomkrieg überleben, dann am ehesten die Ratten. Es scheint, dass diese Intelligenz in diesem Jahr und, wenn man der chinesischen Astrologie folgt, für die nächsten zwölf Jahre besonders gefragt ist. Im Moment macht es mir nicht den Anschein, als ob wir in Europa verstehen würden, was das für uns bedeutet.
Ich bin auch eine Ratte, im September 2020 hat für mich ebenfalls ein neuer Zyklus begonnen. Als mir das Anfang des Jahres beim chinesischen Neujahrsfest aufgefallen ist, habe ich in der Rückschau festgestellt, dass ich zumindest seit meinem 36. Lebensjahr mit jedem Ratte-Jahr in eine neue Lebensphase eingetreten bin. Vor allem beruflich hat sich in diesen Jahren immer etwas grundlegend geändert, und das seither alle zwölf Jahre. Jetzt habe ich zweimal 36 Jahre hinter mir, mein siebter 12-Jahres-Zyklus hat begonnen, und mir ist klar, dass es vielleicht mein letzter sein wird. Wenn es noch eine Zugabe geben sollte, werde ich sie gerne nehmen, aber innerlich begebe ich mich auf meine letzte Lebensrunde. Dazu passt, dass ich im Mai ein Buch veröffentlicht habe, das die Arbeit dieser letzten 36 Jahre zusammenfasst und sich für mich wie mein Lebenswerk anfühlt. Es tut mir gut, mir das Nahen des Todes klar zu machen, sehr gut sogar. Anfangs war ich ein bisschen erschrocken, ich habe immer sehr gerne gelebt und tue dies auch heute noch. Ich wusste zwar, wie alt ich bin, und hatte auch kein Bedürfnis, mich jünger zu machen oder wieder jung zu sein, aber gefühlt habe ich mein Alter nicht, und so gelebt habe ich auch nicht. Jetzt sehe ich die Endlichkeit dieses Lebens, und wenn ich mich darauf einlasse, werde ich seltsamerweise ganz ruhig. Ich schreibe »seltsamerweise«, weil die meisten sich das nicht vorstellen können. Eigentlich ist es aber nicht seltsam. Wenn man einer Tatsache nicht ausweicht, sondern sich ihr offen stellt, wird man immer ruhig. Das gilt auch für den Tod.
Schreiben ist meine spirituelle Praxis, meine Meditation. Im Schreiben, wenn ich es ernst nehme und aufrichtig mit mir selbst und meinen Worten bin, begegne ich mir selbst. In meinen Dreißigern und Vierzigern habe ich es mit »richtiger« Meditation versucht – vor allem den von Osho entwickelten Methoden. Wenn ich alles zusammenrechnen würde, käme ich wohl auf mindestens zehn Jahre mit täglich einer Stunde Meditation. Jetzt, da ich dies schreibe und mich zu erinnern versuche, wundere ich mich, was ich alles gemacht habe, ich bin mir nämlich nie als großer Meditierer vorgekommen. Jetzt also Schreiben. Ich habe das gerade erst entdeckt – nicht das Schreiben, sondern dass es tatsächlich meine Meditation ist. Auch das, Corona, habe ich dir zu verdanken. Wenn es einem dabei um die Wahrheit geht, ist es eine strenge Übung, und die Wahrheit ist ein strenger Lehrmeister. Ich darf dabei nicht für andere schreiben, dann verliere ich mich. Jeder Satz, jedes Wort ist für mich. Sonst ist es nicht wahr. Die Wahrheit kann ich nur wahrnehmen, wenn ich für mich schreibe. Das heißt auch: nicht nur darauf zu schauen, was die anderen tun, sondern zugleich zu schauen und zu fühlen, was das, was sie tun, mit mir macht. Die Welt ist immer beides: Sie ist da und umgibt mich, und sie entsteht in mir. Im Zen-Buddhismus – und auch im Taoismus – gibt es eindrückliche Geschichten über das Bogenschießen oder die Kampfkunst. Erst jetzt beginne ich, sie zu begreifen. Der Schüler wird immer besser, er beherrscht alle Techniken und trifft immer das Ziel oder besiegt all seine Gegner, und der Meister sagt ihm, dass er nichts kann. Die wahre Meisterschaft ist erst erreicht, wenn er das Ziel trifft, ohne zu zielen. Wenn er nichts mehr will und nichts mehr tut, wenn der Bogen sich von alleine spannt und der Pfeil von alleine abfliegt und ins Schwarze trifft. Bis dahin muss er üben, üben, üben. So ähnlich geht es mir mit dem Schreiben. Ich übe noch, ich habe gerade erst angefangen. Gefängnis oder Kloster? Nun sitze ich also am Beginn dieses neuen Lebensabschnitts inmitten der Pandemie und fühle mich wie in einem Gefängnis. Laut unserer Planung sollte ich jetzt im Herbst wieder in China sein, um anschließend auf meiner geliebten Insel Koh Samui noch einen Urlaub dran-zuhängen, aber das alles habe ich schon im Frühjahr ad acta gelegt. Zeit für drei Wochen Urlaub – egal ob in Thailand oder Holland – hätte ich, reif dafür fühle ich mich auch, aber es wäre keine Erholung für mich, in der frischen Luft und sogar am Strand mit Maske rumzulaufen. Ich muss mich jedes Mal dazu zwingen, so ein Ding überzuziehen, wenn ich denn überhaupt mal ein Geschäft betrete. Glücklicherweise muss ich sie hier im Wald nicht tragen. Aber was nicht ist, kann ja, so wie unsere Politiker derzeit agieren, durchaus noch kommen. Ich kann das Gefängnis aber auch als Kloster betrachten und tue dies meist auch. Je nach Sichtweise ändert sich dabei mein Gemütszustand von »Am liebsten möchte ich mit der Axt reinschlagen« zu »Es ist alles gut, so wie es ist«. Anstatt wütend oder resigniert ob meiner Ohnmacht gegenüber der Politik und der ängstlich-aggressiven Stimmung, die ich in der Bevölkerung wahrnehme, werde ich dann still und spüre, dass der erzwungene klösterliche Rückzug mir, auch wenn er mir körperlich einige Schmerzen und Probleme bereitet, guttut, dass ich ihn vielleicht sogar brauche. Denn, wie gesagt, ich gehe auf meine letzte Runde, und selbst wenn noch eine Extrarunde obendrauf kommen sollte: Die grandiose Abenteuerreise, die mein Leben bisher war, nähert sich unaufhaltsam dem Ende, der Abschied von dieser Welt rückt näher, und es fühlt sich gut und passend an, sich das ganz klar zu machen und zu schauen, was es für mich bedeutet und wie es sich auf mein Leben auswirkt. Danke, Corona, dass du mir das zeigst. Und, das fällt mir jetzt sehr schwer zu sagen: Danke, ihr Politiker in Berlin und Düsseldorf, dass ihr mich mit euren Maßnahmen, die ich zum Teil für nachvollziehbar, zu weiten Teilen aber für töricht und teils auch für außerordentlich schädlich halte, bremst. Immerhin habe ich die Wahl, die Mauern, die ihr um mein Leben wie um das aller Menschen, die ihr zu vertreten glaubt, errichtet habt, für Gefängnismauern oder für Klostermauern zu halten. Ich habe mich für Letzteres entschieden, und damit bin ich frei. Es gibt kein Gefängnis. Ich bilde es mir ein. Ich bilde es mir genau so ein, wie die Frau, die vor einigen Jahren zur Beratung bei mir war, sich einbildete, dass sie ihre Kinder nicht umarmen könne, weil jemand sie zurückhalte. Sie hatte das Gefühl, es stehe dann immer jemand hinter ihr und halte sie fest. Als sie im Gespräch meinte: »Ich fühle es jetzt auch, ich fühle, dass jemand mich von hinten festhält«, bin ich aufgestanden und habe hinter sie geschaut. »Ich sehe niemanden«, habe ich gesagt, worauf sie antwortete: »Natürlich ist da niemand, aber ich habe immer das Gefühl!« Ich habe dann gesagt: »Gefühle lügen“.
Tatsächlich war das, was sie zu fühlen glaubte, kein Gefühl, sondern ein Gedanke. Richtige Gefühle lügen nie, Gedanken lügen oft und verkleiden sich dann als Gefühl. Auch mein Gefängnis ist ein Gedanke. Wenn ich das sehe, bin ich frei, auch wenn ich meine Maske tragen muss, meine Arbeit nicht machen, nicht reisen kann und mehr oder weniger zu Hause bleiben muss. Gefallen tut es mir aber trotzdem nicht, und daran gewöhnen will ich mich nicht. Das Kloster habe ich immer gemieden, obwohl es immer ganz nah war. Ich wäre auch nie freiwillig in ein Kloster gegangen, auch nicht zu einem Meditationsretreat wie manche meiner Freunde. Meine Freiheit war mir immer schon heilig, das Heilige hinter den Klostermauern fand ich eher bedrückend. Auch als ich gut zehn Jahre nach meinem Schulabschluss eine ganz andere Art von Kloster betrat, den indisch-westlichen Ashram von Osho, der damals noch Bhagwan Shree Rajneesh hieß und in der deutschen Presse als Sexguru und Sektenführer verteufelt wurde, habe ich dies nur als gelegentlicher, kurzzeitiger Besucher getan. Ich bin im Rahmen meiner damaligen Forschungsarbeit auf ihn aufmerksam geworden, und als ich mich näher damit befasst habe, erschien er mir als eine Gestalt wie einst Jesus, und so jemanden musste ich unbedingt persönlich erleben. Auf die Lehre habe ich mich ganz eingelassen, auf den organisatorischen Rahmen, in dem sie gelehrt und gelebt (in meinen Augen oft auch nicht gelebt) wurde, nur so weit wie unbedingt nötig. Die Atmosphäre dort war zwar eine ganz andere als in jeder Art von religiöser Einrichtung, die ich kannte, alle schienen sich vollkommen frei und ungezwungen zu fühlen und zu verhalten, Lachen, pulsierendes Leben mit Tanz, freier Liebe und ebenso freier Sexualität, die aus dem Moment der Begegnung entstanden und ebenso spontan wieder enden konnten, wechselten sich ab mit tiefer Stille, die nicht erzwungen war, sondern von innen kam – aber auch diesen in vielerlei Hinsicht ganz unklösterlichen und freiheitlichen Ashram, der sich später progressiv-westlich »Commune« nannte, umgaben unsichtbare, für mich aber wahrnehmbare Mauern, sodass ich mich nie ganz hineinbegeben habe. Meine Freiheit war mir immer kostbarer als alles andere – außer der Liebe und der Wahrheit. Für die war ich auch bereit, die Freiheit aufzugeben, denn in der Liebe und der Wahrheit, das habe ich wohl intuitiv gewusst, ist man immer frei. Das habe ich auch bei Osho immer gespürt, aber nicht in der Organisation, die ihn umgab. Immerhin habe ich dort entdeckt, dass es ein Innen in mir selbst gibt, einen Ort der Stille, der nicht von Mauern umgeben ist, mein inneres Kloster sozusagen. Nach vielen Jahren ist mir dieser Ort recht vertraut geworden, und wenn ich mich dort aufhalte, kann mir der äußerliche Lärm nichts anhaben.
Wilfried Nelles, „Also sprach Corona“, Scorpio