Menschen haben Anteil an der evolutionären Gesamtbewegung, das versteht sich von selbst. Wenn wir die knapp vierzehn Milliarden Jahre bis zum Urknall zurückgehen, werden wiederkehrende Muster der Evolution erkennbar. Das beginnt mit subatomaren Teilchen wie Quarks, Elektronen und Protonen, und führt bis hinauf zum Menschen und zu seinem Wachstum, seiner Entwicklung, seiner Entfaltung und Evolution. Die Stufen oder Stadien der Evolution sind Holons, um einen Begriff Arthur Koestlers zu verwenden. Ein Holon ist ein Ganzes, das Teil eines größeren Ganzen ist.
So gut wie alles im Universum ist in irgendeinem Sinne ein Holon. Subatomare Teilchen, Elektronen, Protonen und Neutronen sind in sich selbst Ganzheiten und fügen sich zu einem übergeordneten Holon zusammen, das wir Atom nennen. Ganze Atome vereinigen sich als Teile zu einem ganzen Molekül. Ganze Moleküle fügen sich als Teile zu einem ganzen Organismus zusammen und so fort. Das geht so weiter bis zum Menschen, und auch der Mensch evolviert weiter. Das aber nicht nur im äußeren oder biologischen Sinne, sondern beim Menschen setzt außerdem ein inneres Wachstum ein, eine innere Evolution. An dieser Entwicklung sind Stadien zu unterscheiden, die von brillanten Entwicklungspsychologen sehr genau untersucht worden sind. Diese Entwicklungsstadien, die ein Mensch von Geburt an durchläuft, sind ebenfalls Holons, und das bedeutet, dass die Ganzheit einer Stufe ein Bestandteil der Ganzheit der nächsten wird. Das bleibt eine Weile so, und wenn die Entwicklung dann weitergeht, wird auch diese Ganzheit wieder zum Bestandteil der nächsthöheren Stufe. Es ist eine Abfolge von Schritten, die immer wieder über das Bestehende hinausgehen, es jedoch gleichzeitig einschließen: Transzendenz und Inklusion und wieder Transzendenz und Inklusion.
Eben dieser Evolutionsprozess geht immer weiter, und bei biologisch und psychisch komplexen Organismen wie dem Menschen kann einiges schiefgehen, weil die Stufen und Stadien organischer Natur sind und weil sie, wie man sagen könnte, bewegliche Teile haben. Und wenn hier etwas schiefgeht, dann meist im Zusammenhang mit einer Form von Traumatisierung.
Von jeder nächsthöheren Stufe kann man sagen, sie transzendiere die vorhergehende oder gehe über sie hinaus. Sie ist weiter. Sie umfasst mehr. Sie besitzt neue Kapazitäten, Funktionen oder Fähigkeiten. Neu entstehende Realitäten zeichnen sich ab, und das meinen wir mit transzendieren. Moleküle transzendieren Atome in dem Sinne, dass sie Atome enthalten. Sie gehen über Atome hinaus. Sie besitzen Eigenschaften, die Atome nicht haben, und sie werden selbst wieder von z.B. Zellen transzendiert und eingeschlossen. Zellen enthalten Moleküle, sie schließen sie buchstäblich ein und gehen über sie hinaus. Sie besitzen Fähigkeiten, die Molekülen als solchen abgehen.
Bei diesem Transzendieren und Einschließen, diesem Darüber-Hinausgehen und Integrieren, kann in jeder Phase etwas schiefgehen. Wenn beispielsweise das Transzendieren unterwegs stecken bleibt, geht die Entwicklung nicht wirklich über das vorhergehende Stadium hinaus, wie es eigentlich sein sollte. Das bedeutet für den Menschen, dass man eben nicht auf die nächste Stufe gelangt, sondern aufgrund irgendeiner Fixierung auf der vorherigen hängen bleibt. Man hält an etwas fest, was man für den nächsten Schritt loslassen müsste. Wenn es dazu kommt, dann weil man unbewusst oder unbemerkt an irgendetwas haftet und in gewissem Sinne süchtig danach ist. Man ist immer noch auf das aus, was man auf der vorherigen, niedrigeren Stufe gesucht und gefunden hat und von dem man noch nicht lassen mag.
Oder das Transzendieren klappt ganz gut, aber das Einschließen (Inklusion) bleibt aus. In diesem Fall bleibt man nicht auf der vorherigen Stufe hängen, sondern schafft es nicht, sie einzuschließen. Dann heißt es nicht Transzendenz und Inklusion, sondern Transzendenz und Unterdrückung oder Ausblendung oder Dissoziation. Das erzeugt dann keine Sucht, sondern eine Allergie. Irgendetwas an der vorhergehenden Stufe stößt einen ab. Es behagt einem nicht. Man weist es von sich. Man möchte es leugnen. Beide Abläufe haben ihre Tücken und hängen direkt mit Problemen zusammen, die mit einer Traumatisierung assoziiert sind.
Was den evolutionären Ablauf angeht, lassen sich diese Prozesse unter mindestens vier Gesichtspunkten betrachten, die alle gleich wichtig sind. Wir nennen sie die vier Quadranten und bezeichnen sie mit: subjektiv, objektiv, intersubjektiv und interobjektiv. Man kann jedes wissenschaftliche oder sonstige Gebiet wie Geschichte oder Medizin oder Psychotherapie oder Spiritualität unter nur einem dieser Gesichtspunkte betrachten und behaupten, das sei der einzig richtige und relevante Zugang. In den Naturwissenschaften beispielsweise geht es ja oft nur um die Außenansicht eines individuellen Holons. Real sind dann letztlich nur ganz fundamentale Grundbausteine wie Elektronen, Protonen, Neutronen, Quarks und Strings, die als Objekte betrachtet werden.
Betrachten wir ein Trauma aus dieser Außenperspektive (objektiver Quadrant), reduzieren wir damit eigentlich alles auf irgendeine Hirnschädigung oder jedenfalls die Beschädigung irgendeiner materiellen biologischen Struktur. Man kann auch den kollektiven Aspekt aus dieser Außenperspektive betrachten. Das ist dann der interobjektive Quadrant, zu dem die Institutionen und die technische Infrastruktur der jeweiligen Gesellschaft gehören – Geldsystem, Verkehr, Geburtsraten, Sterberaten und so weiter, all die objektiven Fakten, die bei der Betrachtung der äußeren Realität eine Rolle spielen. Diese äußeren Systeme, die den interobjektiven Quadranten ausmachen, spielen tatsächlich eine wichtige Rolle als der Ort, an dem sich alle möglichen Traumata abspielen.
Dann haben wir noch die kollektive Dimension, die von innen betrachtet wird, den intersubjektiven Quadranten. Zu diesem Quadranten gehören unsere sozialen Systeme, und in die sind natürlich viele Traumata der Vergangenheit eingebettet. Der psychotherapeutische Ansatz schließlich besteht in der Innenansicht der individuellen Subjektivität. In diesem subjektiven Quadranten wird gefragt, wie jemand sein oder ihr Trauma tatsächlich empfindet. Was überhaupt über Trauma gesagt werden kann, wird unter einem dieser Gesichtspunkte bzw. aus einer dieser Perspektiven gesagt.
Nehmen wir also an, Sie seien als Kind sexuell missbraucht worden. Das kann natürlich Ihre individuelle, subjektive Psyche schwer traumatisieren (subjektiver Quadrant). Es wird auch Ihre Neurophysiologie, also Ihr Nervensystem traumatisieren (obkektiver Quadrant) und sein Wachstum stören. Darüber hinaus haben wir noch die Familie, in der Sie geboren und aufgewachsen sind, und die muss ja gestört genug gewesen sein, damit es zu einem solchen Verhalten kommen konnte (intersubjektiver Quadrant). Sie verinnerlichen das und neigen dann zur Wiederholung des Ihnen zugefügten Traumas, weil es sich um ein Muster handelt, das Sie im intersubjektiven Quadranten gelernt haben. Und dann haben wir natürlich noch das Äußere Ihres gesellschaftlichen Umfelds, den interobjektiven Quadranten. Wie sah Ihre Familienstruktur aus? Wie war die Einkommenslage? Waren Ihre Eltern drogen- oder alkoholsüchtig? Wie Sie sehen, lassen sich aus allen vier Perspektiven sehr wichtige Dinge erkennen.
Es gibt aber noch eine andere Art von Trauma, und die hat etwas mit Entwicklung zu tun. Hier besteht das Trauma nicht aus etwas, das bereits passiert ist, sondern eigentlich darin, dass eine höhere Entwicklungsstufe noch nicht erreicht worden ist. Es kann dann sein, dass jemand in dieser Lage anderen unabsichtlich schadet oder sie unterdrückt, ohne es auch nur zu merken. Es muss nicht unbedingt sein, dass im früheren Leben dieses Menschen irgendetwas Schlimmes passiert ist oder dass es frühkindlich angelegte Schatteninhalte gibt, die jetzt ausagiert werden. Auch das kann natürlich sein, aber oft sind solche Menschen einfach nicht in der Lage, die Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten, und dadurch kann es sein, dass sie andere, mit denen sie zu tun haben, traumatisieren, vor allem dann, wenn sie eine Machtposition innehaben. Die Sklaverei und der Holocaust sind Beispiele für diese Art der Traumatisierung, und es besteht kein Zweifel, dass sie die betroffenen Menschen wirklich schwer traumatisiert haben. Viele der Traumata, die Menschen von Menschen zugefügt wurden, hatten damit zu tun, dass die Täter keinen ausreichend hohen Entwicklungsstand, auch hinsichtlich ihrer Moral, erreicht hatten.
Dies ist einer der Gesichtspunkte, die wir unbedingt im Auge behalten müssen, wenn wir Generationstraumata der heutigen Welt betrachten. Es ist nämlich so, dass sich 60 bis 70 Prozent der Weltbevölkerung noch auf der ethnozentrischen oder sogar einer niedrigeren Entwicklungsstufe befinden. Und das bedeutet, dass sie bereit sind, anderen aus dem einfachen Grund zu schaden, dass sie nicht in der Lage sind, ihr moralisches Empfinden auf sie auszudehnen.
Plotin hat einmal gesagt, Sünde sei kein „Nein“, sondern ein „noch nicht“. Daran liegt etwas Wahres, wenn wir an Entwicklung denken. Hier besteht Sünde nicht darin, dass etwas geschehen ist und man nein dazu gesagt und es unterdrückt hat. Das Problem liegt vielmehr darin, dass die Menschen noch nicht den Entwicklungsstand hatten, von dem aus es gar nicht erst zur Sklaverei oder zum Holocaust gekommen wäre. Jeder wird auf der untersten Stufe geboren und muss alle Entwicklungsstadien durchlaufen.
Auf jeder dieser Stufen kann es zu Fixierungen oder zur Dissoziation kommen, und dann geht es nicht weiter. Alles Mögliche kann schiefgehen, unser Wachstum hemmen und unsere Entwicklung verlangsamen, sodass wir uns schwertun, höhere Entwicklungsstufen zu erreichen, die mehr Raum in uns entstehen lassen, so dass wir für alle Menschen offen sein können, statt sie nach ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ethnischen Zugehörigkeit und anderer Äußerlichkeiten zu beurteilen.
Individuelle und kollektive Traumata gehören zu den Dingen, die unsere Entwicklung ernsthaft beeinträchtigen können. Nach einer Traumatisierung kommt die Energie, die eigentlich aufsteigen soll, um immer wieder zu transzendieren und einzuschließen, ins Stocken. Der entstandene Schaden lässt nicht zu, dass sie weiterhin so wirkt, wie sie soll, und für den Teil, der beschädigt wurde, geht es hier normalerweise nicht mehr weiter. In anderen Bereichen kommen Sie vielleicht immer noch irgendwie zurecht, aber das an Ihnen, was zu stark beschädigt oder verletzt wurde, funktioniert nicht mehr – und wird auch nicht mehr wachsen. Es wird sich nicht mehr vorwärts bewegen.
So entstehen Schattenanteile und Schatteninhalte, und so gut wie niemand geht gänzlich ohne Schatten aus der Kindheit hervor. Außerdem bleiben diese Schattenanteile alles in allem auf der Altersstufe, auf der sie entstanden sind, und schon aus diesem Grund können sie nicht funktionieren. Nehmen wir an, Sie hätten Schatteninhalte aus der Zeit, als Sie drei Jahre als waren; diese Anteile bleiben unabhängig von Ihrem jetzigen Alter drei Jahre alt. Sie haben die Wünsche und die Impulsivität eines/einer Dreijährigen und natürlich die in diesem Alter noch begrenze Fähigkeit, vernünftig zu denken. Sie können noch weitere Schatten haben, die im Alter von sieben Jahren entstanden sind. Und noch andere, die zwölf Jahre alt geblieben sind. Auch im weiteren Verlauf Ihres Lebens als erwachsener Mensch können immer weitere Schatten entstehen, und alle diese Schatten bleiben so alt wie Sie waren, als sie entstanden.
Trauma-Arbeit ist unter anderem deshalb so wichtig, damit wir uns als Menschheit weiterbewegen und den künftigen Herausforderungen stellen können, um uns mit den realen Problemen auseinanderzusetzen. Normalerweise wird dann immer gefragt, was wir an neuer Technik brauchen oder was wirtschaftlich geschehen muss oder welches politische System das Beste ist oder wie unsere Nahrungsmittelproduktion künftig aussehen muss. Aber da bleibt der Blick immer auf die äußeren materiellen Dinge gerichtet, während wir eigentlich auf das Innere der Leute blicken müssten, die bei all diesen Dingen die Entscheidungsträger sind. Hier können Trauma-Arbeit und Trauma-Auflösung dem Bewusstsein helfen, seinen Weg fortzusetzen.
Ken Wilber, www.integrallife.com/who-is-ken-wilber
„Kollektives Trauma heilen“, Thomas Hübl