Die Lebensbedingungen der Menschen haben sich grundsätzlich gewandelt. Aber der Mensch selbst hat sich kaum geändert. Die Tiefenökologin Dolores LaChapelle sagt: “Der Punkt ist, dass wir nach wie vor die gleichen menschlichen Wesen sind. Die Leute sagen immer, man könne nicht zurück gehen. Aber wir sind seit 50.000 Jahren die gleichen Menschen. Und weil es mindestens 40.000 Jahre dauert, bis ein grundlegender genetischer Wandel eintritt, haben wir dafür noch gar nicht die Zeit gehabt. Wir sind dieselben, wir gehen nicht zurück, sondern entdecken nur den wirklichen Menschen wieder.”
Was sich fraglos verändert hat, ist das, was wir Wildnis nennen. Die Wildnis, die unsere Vorfahren kannten, ist wahrscheinlich unwiederbringlich verloren. Heute tritt uns die ungebändigte Natur in Form von ökologischen Krisenphänomenen entgegen: Mit Hochwasserkatastrophen, Dürren und Lawinen, Hautkarzinomen infolge erhöhter UVB-Strahlung und in Gestalt des ‘Rinderwahnsinns’, in dem sich der Wahnsinn industrieller Massentierhaltung spiegelt: “Krisenphänomene, von denen wir nicht mehr sagen können, ob es sich um Naturkatastrophen oder um ‘Kulturkatastrophen’ handelt”. Mit der fortschreitenden ökologischen Zerstörung ist die ‘Wildnis’ einerseits zur Metapher für zunehmend chaotische Verhältnisse in den Städten geworden: Wir sprechen vom ‘Großstadt-Dschungel’ und ‘Straßenschluchten’, von ‘Finanzhaien’ und ‘Korruptionssümpfen’. Andererseits ist die ‘Wildnis’ zum Synonym für die heile, von der Zerstörung durch die Zivilisation unberührte ursprüngliche Natur geworden.
Die gezähmte Wildnis
Romantisiert worden ist die wilde Natur schon seit dem 18. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert aber wurde sie zum lebendigen Beispiel für die sich selbst organisierende natürliche Welt und zum Museumsstück einer frei fließenden Evolution. Das machte sie auf ganz neue Weise zum schützenswerten Gut. Naturschutz wurde nicht länger in dem Sinn verstanden, dass der vernunftbegabte Mensch der ‘dummen’ Natur in entsprechenden ‘Naturparks’ dabei helfen müsse, sich selbst zu erhalten. Biologen und Forstwissenschaftler entdeckten vielmehr, dass der Wildnis eine eigene Intelligenz, eine erstaunliche Selbstheilungs- und Regenerationskraft innewohnt, dass – um es kurz zu sagen – die Wildnis auch ohne den Menschen wertvoll ist. Im Naturpark Bayerischer Wald hat der Borkenkäfer deshalb seit knapp zwei Jahrzehnten freie Bahn und darf seine Schneise in den neu entstehenden Urwald schlagen, von dem der Mensch die Finger lässt. Wo Natur – zumindest in Reservaten – wieder sich selbst überlassen wird, spricht man neuerdings nicht mehr von Umweltschutz, sondern von ‘Prozessschutz’. Die ‘wilde Evolution’ wurde zum Wert an sich. Damit hat sich das Verhältnis zwischen Kultur und Wildnis an einem wichtigen Punkt geändert. Nachdem sich Kultur ursprünglich durch die Abgrenzung von der Wildnis entwickelt hatte und sich immer im Gegensatz zum Wilden definiert hatte, war die Wildnis jetzt zu einem Kulturgut geworden.
Zeitgleich ist die Sehnsucht der Menschen nach der Natur enorm gewachsen. Je reglementierter der Alltag in der Zivilisation wurde, desto mehr wurde die Wildnis zum Symbol für Selbstbestimmung, Freiheit, Authentizität und Heilung vom Stress und anderen Zivilisationskrankheiten. Die Werbeindustrie machte sich dies zunutze: Raucher entdecken die ‘Mildnis’, Biertrinker das Segeln auf einem alten Dreimaster. Urlaubsprospekte bieten Wildnistrips und Abenteuerreisen „in die letzten Paradiese“ an. Die Umweltbildung, die angesichts der ökologischen Krise immer wichtiger wurde, entdeckte die wilde Natur als Lehrerin für ökologisches Bewusstsein und Liebe zur Natur. Seit Mitte der 90er Jahre wurden in Deutschland, Österreich und der Schweiz rund 70 Naturschulen gegründet, die allesamt ein gutes Auskommen haben . Mit der modernen Erlebnispädagogik und dem Boom der Natursportarten hat die Grenzerfahrung in der Natur wieder eine pädagogische und soziale Anerkennung bekommen. Die Schlussfolgerung, dass die zunehmende Sehnsucht nach der Wildnis unmittelbar mit ihrem Verschwinden in der natürlichen Umwelt zu tun hat, liegt nahe.
Mensch und Natur – eine Spaltung heilen
Damit bekommt auch die Wiederentdeckung der Wildnis einen sehr aktuellen pädagogischen und politischen Aspekt. Denn diese Wiederentdeckung ist unmittelbar mit der drohenden Zerstörung der Wildnis und der gesunden Lebensgrundlagen in der Biosphäre verbunden. Erst mit der Erkenntnis, dass unser Verhältnis zur natürlichen Welt deutlich krankhafte Züge trägt, begann die ernsthafte Suche nach therapeutischen und rituellen Heilungsansätzen, die einer pathogenen Kultur helfen könnte. Die Diagnosen für den Zustand der modernen Welt sind zahlreich: Der Psychologe Theodore Roszack spricht von einer ‘dissoziierten Entfremdung’ – wir wissen von der Zerstörung, können sie wahrnehmen, aber handeln nicht. Erich Neumann spricht von einer ‘Bessenheit des Ich-Komplexes’, mit der die Wahrnehmung wider aller Erfahrung in eine psychische Innenwelt und eine physische Außenwelt getrennt werden. Der Philosoph Paul Shepard vergleicht den Zustand der Kultur mit einer ‘Entwicklungshemmung’, die einer Jugendpsychose ähnelt, bei der man sich die Welt einverleiben will, um sie zu besitzen. Der Geologe und Ökologe Thomas Berry bezeichnet unser Verhältnis zum Lebendigen als ‘Autismus’, weil wir unfähig sind, eine wechselseitige Beziehung und Kommunikation zur Natur aufzunehmen. Dolores LaChapelle diagnostiziert eine ‘suizidale Abhängigkeit’, die sich darin zeigt, das wir ein Verhalten nicht ändern, obwohl wir wissen, das es zerstörerisch wirkt. Ralph Metzner schließlich spricht von einer ‘kollektiven Amnesie’: Wir haben vergessen, was unsere Vorfahren längst wußten – Wissen über Wahrnehmungsformen, Initiationsriten, natürliche Kreisläufe, Ehrfurcht vor der Natur.
Allen diesen Diagnosen ist gemeinsam, dass sie im Gegensatz zur traditionellen Diagnostik der Psychopathologie nicht Individuen betreffen, sondern ganze Kulturen. Sie dehnen außerdem Krankheitsbilder, die wir aus der Zivilisation kennen, auf das Verhältnis zur belebten Welt aus. All die oben erwähnten Autoren eint die Überzeugung, dass eine Psychotherapie unvollständig bleibt, solange sie nicht die existentielle Grundlage unserer biologischen Existenz und der Beziehung zur Natur mit berücksichtigt. Und sie sind der Überzeugung, dass man in einer kranken Kultur keine gesunden Menschen findet. Aus dieser Grundüberzeugung entwickelte sich das, was man heute ‘Ökopsychologie’ nennt. Und von diesem Ansatz ausgehend hat man vor rund 40 Jahren begonnen, sich auf die Suche nach Erfahrungsformen zu machen, mit der die psychischen Krankheiten der Zivilisation aufgebrochen und geheilt werden können. Dabei stießen Pioniere wie Steven Foster und Meredith Little auch auf die alte Tradition der Visionssuche.
Die Rückkehr zum ökologischen Unbewussten
Die Grundannahme der Ökopsychologie ist, dass jedes äußere Ereignis auch ein inneres Ereignis ist und jedes innere Muster seinen Niederschlag in der äußeren Welt findet. Um also unser Verhalten gegenüber der Natur zu verändern, müssen wir die Wurzeln der Entfremdung erkennen und dort mit der Heilung ansetzen. Theodore Roszack spricht dabei von der “Rückkehr zum ökologischen Unbewussten” und meint die Wiederentdeckung der menschlichen Wurzeln in der natürlichen Welt. Um das zu erreichen, wendet sich die Ökopsychologie vielen Quellen zu, unter anderem den Heilungstechniken traditioneller Gesellschaften, der Naturmystik, der unmittelbaren Erfahrung der Wildnis und den Einsichten der Tiefenökologie. All diese Ansätze nutzt sie, um Menschen dabei zu unterstützen, sich mit der nicht-menschlichen Natur zu identifizieren, mitzufühlen und entsprechend ethisch-verantwortlich zu handeln: “Was die Erde braucht, muss in uns fühlbar werden; wir müssen es so spüren, als seien es unsere persönlichsten Bedürfnisse.”
Die Wiederentdeckung der Visionssuche und anderer Erfahrungsräume in der Wildnis entstanden also aus dem Bedürfnis, einen therapeutischen Ansatz zur Heilung einer kranken Kultur zu finden. Und aus der Einsicht, dass unsere moderne Kultur sowohl der Auslöser, als auch der Weg ist, der uns aus der Krise herausführen kann. Und im Gegensatz zu allen psychotherapeutischen Schulen nahm sie die Entfremdung des modernen Menschen von der mehr-als-menschlichen-Natur nicht als etwas Gegebenes und Irreversibles hin.
Wir Menschen sind untrennbare Teile eines Ganzen
Die Heilung, die die Visionssuche und Wildniserfahrung bietet, liegt darin, sich auf einer körperlichen, psychologischen und spirituellen Ebene wieder als einen Teil des Ökosystems und der Biosphäre erleben zu können. Wenn die Trennung zwischen Mensch und Natur auch nur einmal aufgehoben wurde, ändert sich das Weltbild. Die Wiederanbindung ist ein Sprung auf eine andere Ebene der Erfahrung, einer anderen Ebene, die Wirklichkeit wahrzunehmen und eine andere Ebene des Verhaltens in der Welt. Es bedeutet, sich auf eine neue Art im Netz des Lebens zu verorten und Teil von etwas Größerem zu sein, das alles Lebendige umfasst. Und es ist ein Wechsel von festen ideologischen Glaubenssystemen zur Authentizität der eigenen Erfahrung.
Damit ist die Wildniserfahrung auch eine sehr politische Antwort auf den Zustand der Welt: Ihre Wiederentdeckung hing unmittelbar mit der ökologischen Krise und der Suche nach therapeutischen Ansätzen zur Heilung eines pathologischen Umgangs mit der Natur zusammen. Und die moderne Praxis der ‚Wildnisarbeit‘ ist neben allen ihren erwähnten anderen Wirkungen auch eine Arbeit am ökologischen und politischen Bewusstsein. Wer sich selbst in einer so existentiellen Form als Teil der Erde und die Erde als Teil seiner selbst erlebt hat, wer die Angst vor der Wildnis in Liebe verwandelt hat und die Chance hatte, seine eigene innere Vielfalt in der Vielfalt der lebendigen Natur zu entdecken, der wird sich für eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft engagieren – nicht aus ideologischen Gründen, sondern wegen seiner unmittelbaren Erfahrung.
aus dem Buch von Geseko v. Lüpke und Sylvia Koch-Weser:
Vision Quest – Visionsuche: Allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst, Oya-Verlag)