Der Song „Ohio“ von Crosby, Stills, Nash & Young anlässlich der staatlichen Ermordung pazifistischer Studenten ist politische Musikgeschichte und auch heute noch aktuell.
Der 4. Mai 1970 gilt als einer der schwärzesten Tage in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Jener Montag führte den Amerikanern vor Augen, dass ihre demokratisch gewählte Regierung vor Mord an der eigenen Bevölkerung nicht zurückschreckt, wenn es darum geht, eigene Interessen durchzusetzen und Widerspruch auszuschalten. Damals geschah das Undenkbare: Amerikanische Soldaten eröffneten in Amerika das Feuer auf amerikanische Studenten. Vier junge Menschen starben, neun wurden zum Teil schwer verletzt.
Die Opfer hatten an der Kent State University in Ohio gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Mit den tödlichen Schüssen der Nationalgarde waren der Krieg und das Morden in der Heimat angekommen. Keiner der Verantwortlichen wurde jemals zur Rechenschaft gezogen. Crosby, Stills, Nash & Young antworteten mit dem wütenden Protestsong „Ohio“. Der Refrain „Four dead in Ohio“ ist bis heute eine Anklage gegen die Kriegswilligen und Machtbesessenen, für die ein Menschenleben nichts zählt.
„Ohio“ — Die Wut einer Supergruppe
Crosby, Stills, Nash & Young sind 1970 die Supergruppe in den U.S.A. David Crosby kam von den Byrds, Graham Nash von den Hollies aus England, Stephen Stills und Neil Young spielten zusammen bei Buffalo Springfield. Ihr erstes Album bringen sie 1969 bei Atlantic Records noch als Trio heraus — Crosby, Stills & Nash —, dann schlägt der legendäre Plattenboss Ahmet Ertegün vor, den charismatischen Kanadier Neil Young in die Band aufzunehmen. Die vier Musiker zögern kurz, denn alle zeichnet vor allem eines aus: ein großes Ego. Aber nach den ersten Proben ist klar, dass sie zusammen Außerordentliches darstellen würden. Solche Harmoniegesänge hatte man bisher nur bei den Beatles gehört. Neil Young sagt später: „Wenn wir gut waren, waren wir wirklich sehr gut.“ Der Deal kommt zustande.
Fortan sind Crosby, Stills, Nash & Young eine Gelddruckmaschine. Das Quartett spielt beim Woodstock-Festival und gilt als Konzertattraktion schlechthin. Ihr Album „Déjà vu“, veröffentlicht im März 1970, also zwei Monate vor den Schüssen an der Kent State University, erreicht Platz eins der Charts in den U.S.A., Kanada und Australien. „Ich habe mich nie wirklich als Aktivist gesehen. Ich möchte nur eine Stimme haben“, schreibt Neil Young in seiner 2012 erschienenen Autobiographie. Genau diese Stimme erhebt Young am 19. Mai 1970, als er sich zusammen mit David Crosby in Pescadero, Kalifornien, aufhält und im Life-Magazin die Bilder der erschossenen Studenten sieht. Neil Young packt seine Akustikgitarre und geht in den nahegelegenen Wald. Einige Stunden später kommt er zurück und spielt David Crosby „Ohio“ vor. Crosby ist erschüttert von der Wucht des Songs. Bereits zwei Tage später, am 21. Mai 1970, treffen sich Crosby, Stills, Nash & Young im Record Plant Studio in Los Angeles und nehmen „Ohio“ auf. Schließlich werden das drei Minuten voller Wut, Empörung und Nie-mehr! Neil Youngs unversöhnliche Stimme, die anklagenden, schuldig sprechenden Gitarren, David Crosbys Ruf am Ende des Songs: How many more? Why? „Wieviele noch? Warum?“ — ein Lied wie aus einem Guss. Die ewig offene Rechnung. Der Guardian wird „Ohio“ später als „den größten Protestsong aller Zeiten“ bezeichnen.
Crosby, Stills, Nash & Young nehmen die Single innerhalb von 24 Stunden auf. Zehn Tage später kommt sie auf den Markt. Die B-Seite ist das kurze, aber ebenfalls großartige „Find The Cost Of Freedom“, geschrieben von Stephen Stills. Neil Young deutet in „Ohio“ mit dem Finger auf Präsident Nixon und seine Befehlsempfänger: Tin soldiers and Nixon coming. „Zinnsoldaten und Nixon kommen.“ Das ist den großen Radiostationen zu rebellisch, sie boykottieren das Lied. Den Mainstream-Sendern fehlt die Courage, sie gehorchen lieber der Regierung. Aber die kleinen Radiostationen im ganzen Land und das College-Radio spielen das Lied in der Endlosschleife. Wer will, kann „Ohio“ hören.
Crosby, Stills, Nash & Young haben ihre Stimme erhoben. Es ist eine laute. Nur darum ging es ihnen.
Was ist von der Gegenkultur geblieben?
Auf den ersten Blick hat „Ohio“ nichts verändert. Richard Nixon wurde 1972 mit großer Mehrheit als Präsident der Vereinigten Staaten wiedergewählt. Bis heute wurde keiner der Todesschützen des 4. Mai 1970 verurteilt, die Kommandeure und Befehlshaber an jenem Tag gingen mit militärischen Orden bestückt in den Ruhestand.
Nach zahllosen Prozessen der Hinterbliebenen und Verwundeten bekamen sie zusammen die lächerliche Summe von 675.000 Dollar zugesprochen. In einem Schreiben drückten die 28 Hauptbeschuldigten ihr Bedauern über die Tragödie aus. Wohlgemerkt: Ihr Bedauern. Zu einer Entschuldigung konnten sich James A. Rhodes und die Zinnsoldaten nicht herablassen.
Noch befremdlicher wirkt, was aus den Musikern selbst geworden ist. Sie haben sich vom Establishment vereinnahmen lassen. Der mittlerweile verstorbene David Crosby nannte in seiner Rolling-Stone-Kolumne diejenigen, die sich gegen die Corona-Impfung entschieden hatten, „Idioten“. Auch Neil Young rief zur Impfung auf. Außerdem hat er die Rechte an der Hälfte seiner Songs an einen Fonds verkauft, der in London an der Börse gehandelt wird. Das soll ihm 150 Millionen Dollar eingebracht haben. Der Kompromisslose ist nicht mehr kompromisslos.
Aber „Was war, was ist“ — dieser Vergleich ist beim Protest falsch. Der Protest kennt nur das Jetzt. Deshalb hat „Ohio“ nichts von seiner Größe verloren. Graham Nash sagte in einem Interview:
„Wir haben mit der Veröffentlichung von ‚Ohio‘ einige Regeln des Musikbusiness‘ gebrochen, aber das war uns gleichgültig. Wir waren wütend. Jetzt! Die Jugendlichen waren wütend. Jetzt! Sie haben unsere Kinder getötet, das mussten wir herausschreien. Jetzt!“
Dasselbe gilt für das, was heute in der Welt geschieht. Morgen zählt nicht, morgen kann alles anders sein. Protest gegen Krieg und Willkür, gegen Lügen und Unrecht ist wichtig und richtig. Jetzt!
Andreas Engl