Als Ausdruck ihrer Sehnsucht zur Natur und um sich immer wieder mit ihr zu verbinden, schufen sich die Menschen Götter und Göttinnen der Wildnis, welche die Anteile des ‘Wilden’ personifizierten. Artemis war eine der sechs weiblichen Göttinnen im griechischen Pantheon. Selbst unter dem Patriarchen Zeus galt sie als unabhängige, durch die Wildnis streifende Jungfrau und Schutzgöttin der Tiere, der sich kein Mann ungestraft nähren dürfte. Sie war diejenige, „die Visionen hervorrief und besonders vom einfachen Volk verehrt wurde“. Diana war die römische Göttin der wilden Tiere. Sie wurde nördlich der Alpen mit den keltischen Naturgöttinnen identifiziert, dann veränderter Form in der heutigen Pfalz verehrt und noch später mit der Heiligen Jungfrau verglichen. Dort gab es früher Cernunnos, den keltische Gott mit dem Hirschgeweih. Er war die Manifestation des männlichen göttlichen Prinzips im Sinne zeugender Fruchtbarkeit. In Griechenland verehrte man neben Pan, Dyonisos, den Gott der Ekstase und des wilden Weins als männlichen Aspekt des Wilden. Daneben gab es eine Menge anderer göttlicher und übernatürlicher Wesen, die die Natur bewohnten: Riese, Zwerge, Elfen, Trolle, Nyphen, Naturgeister, Kobolde, Luftgeister und Feen, die in Wäldern, Flüssen, Feldern, Quellen und Wolken lebten und diese beschützen – allesamt personalisierte Formen unterschiedlicher Energien, die eine empfindsame Psyche in der Wildnis wahrnehmen konnte. Spiritulität war nicht von der Natur getrennt: Das Natürliche war das Spirituelle.
Die alten Gött*Innen schlafen nur
Diese Weltanschauung war animistisch, pantheistisch und polytheistisch: Im Animismus sind alle Lebensformen beseelt, im Pantheismus ist alles heilig und von Göttlichkeit durchdrungen, im Polytheismus gibt es nicht einen Gott, sondern viele Gottheiten. Zwar wurde – wie oben beschrieben – im Laufe der Kulturgeschichte den natürlichen Lebensenergien die Göttlichkeit abgesprochen. Doch die unsterblichen Götter starben nicht, sie sind noch da.
„Wir könnten sagen, sie fielen in einen Schlaf oder entfernten sich aus der menschlichen Sphäre, als die Menschen aufhörten, mit ihnen zu sprechen oder zu ihnen zu beten. In den Begriffen der Jungianer würden wir sagen, dass die Archetypen, die das Empfinden unserer Vorfahren, lebendig mit der ganzen Natur verbunden zu sein, unterstützten, in die dunkle, unbewusste Unterwelt der kollektiven Psyche abtauchten.“
Dort ruhen sie bis heute und sind jedem verfügbar, der sich – ob durch Meditationen, schamanische Reisen oder Visionssuchen – tief genug herablässt. Manchmal zeigen sie sich an ganz überraschenden Stellen, wo man nicht mit ihnen rechnen würden: In den gotischen Kathedralen, die oft auf alten Naturheiligtümern erbaut worden waren, begegnet man neben Kobolden, Drachen, Dämonen und Tieren immer wieder auch der geheimnisvollen Gestalt des Grünen Mannes und seinem blätterumrahmten Gesicht, dass versteckt aus Fensterstürzen schaut oder als Schlussstein am Deckengewölbe das Kirchenschiff zu halten scheint. In ihm spiegeln sich die Überreste des Pflanzengottes alter Zeiten: Er ist ein Mischwesen aus Mensch und Natur, er erinnert, woher wir kommen und wozu wir gehören. Er heiligt die Natur, denn seine Worte sind wie Blätter, die aus seinem Mund quellen.
Die symbolische Übernahme des heiligen grünen Pflanzengeistes taucht wiederum bei den visionären Schriften der rheinländischen Äbtissin Hildegard v. Bingen auf. Ihre Metapher der ‘Viriditas’, der ‘Grünkraft’ ist der Begriff für die schöpferische Kraft Gottes in der Natur: Jesus nennt sie ‘inkarniertes Grün’ Maria ist für sie die ‘Viridissima Virga’, das jungfräuliche Grün. Franz v. Assisis Liebe zu Bruder Sonne und Schwester Mond, seine Freundschaft mit Wölfen und Vögeln, die ihn bis heute zu einem Heiligen der Ökologiebewegung macht, verweist ebenso auf animistische und pantheistische Zweige im Christentum.
Naturmystik gab es immer schon
Aus diesem Überblick wird deutlich, dass die Verbindung von mystischer Einheitserfahrung, Spiritualität und Natur, eine tief verwurzelte und sehr menschliche Form der Wahrnehmung ist. Sie stellt sich bei dem Menschen ein, der sich offen dieser Erfahrung aussetzt „Ein Mensch, der ohne Hilfsmittel alleine in der Natur steht“, sagt der Ethnopsychologe Holger Kahlweit, „entwickelt früher oder später ein schamanisches Bewusstsein.“
Die Sehnsucht nach Spiritualität in der modernen Gesellschaft ist ungebrochen. Der Gang in die Wildnis bietet da einen authentischen und individuellen Zugang zu einer ganz persönlichen Spiritualität, die jeder anders erlebt, versteht und in sein Leben einbringt. Was bleibt übrig, wenn ich mich fern aller Gurus nur mir selber stelle? Welche Spiritualität entsteht aus der Begegnung mit mir selbst? Wie ist mein ganz persönlicher Zugang zum Religiösen? Wie finde ich Gott oder Göttin jenseits der Konfessionen? Viele Menschen, die sich von den institutionalisierten Religion der Kirchen abgewandt haben, fühlen sich während ihrer Zeit in der Wildnis dem Heiligen näher als sonst irgendwann in ihrem Leben.
Trance und Traumzeit
Der Ökopsychologe Robert Greenway greift genau auf diese Traditionen zurück, wenn er die Wirkung der Wildnis auf den Menschen als ‘religiöse Erfahrung’ bezeichnet und als „eine Öffnung des Bewusstseins für eine Form der Information“ beschreibt, „die zwischen allen Lebensformen vibriert“. Für ein Bewusstsein, dass durch Nahrungssentzug, wenig Schlaf und Einsamkeit hochempfindlich geworden ist, kann diese ‘vibrierende Information’ in der Visionssuche oder anderen Wildniserfahrungen sehr bildhafte Formen annehmen.
Die Teilnehmer können Halluzinationen erleben, Trancezustände, lebhafte Wachträume, außerkörperliche Erfahrungen, tiefe meditative Zustände, intensive Rückblenden in die Vergangenheit, aber auch Erfahrungen von Hellsichtigkeit, Hellhörigkeit, Telepathie, mediale Erlebnisse und mystische Visionen haben. Auch wenn solche Erfahrungen nicht das eigentliche Ziel der Visionssuche oder eines Aufenthaltes in der Wildnis sind, können sie sich wie ein Geschenk ergeben und für den Betroffenen Schlüsselerlebnisse in der persönlichen Entwicklung sein.
Weil Erfahrungen außergewöhnlicher Bewusstseinszustände in der modernen Kultur nicht anerkannt und pathologisiert werden, kann eine solche Erfahrung Angst machen: Angst vor dem Verrücktwerden, Angst vor Kontrollverlust, Angst, die Intensität des Erlebten nicht verarbeiten zu können.
„Ich höre den Fluss. Und plötzlich wird für einen Moment alles ganz groß. Der Fluss und sein Geräusch hatten Bedeutung, waren wirklich das brüllende Rauschen der Schöpfung. Alles lebte, alles war voll mit Geist. Das fühlte sich an wie eine Riesenwelle, die heran rollt und mich nur streift, wie ein Kratzen an der Erleuchtung, wie eine Ahnung von der Größe des Raums, vor dem ich mich verschließe. Es schien zu bedrohlich und in bedrohlicher Schönheit. Ich hatte Angst und war in Staunen. Es war das Gefühl, dass mir diese große Ganzheit meine Identität raubt, dass ich zwar verschmelze aber gleichzeitig weggerissen werde, dass ich zwar ganz werde, aber nicht mehr weiß, wer ich bin. Dass es einfach zu groß ist und ich es noch nicht tragen kann. Und dass ich Angst habe, mich diesem heiligen Raum zu überlassen und meine Rationalität verliere.“ (Paul, 41)
Außergewöhnliche Bewusstseins-Zustände
In aller Regel öffnen sich diese Räume nur in dem Maß, wie sie der Betroffene auch annehmen kann. Es ist wichtig, anzuerkennen, dass es sich dabei nicht um krankhafte Zustände handelt, sondern um intensive Grenzerfahrungen. Denn jeder Mensch hat das Potential in sich, in umfassendere Bewusstseinsräume einzutreten. Je intensiver unser Bewusstsein wird, desto eher können ‘paranormale’ Erfahrungen auftreten, die der Betroffene dann aber meist als ganz ‘normal’ wahrnimmt. Und doch können sie unser Weltbild auf den Kopf stellen. So ist es kein Zufall, dass Menschen, die in der Wildnis waren, von dem Eindruck berichten, draußen „von Bewusstsein umgeben zu sein“. Wir wissen noch wenig über die Natur des Bewusstseins. Mystische Erfahrungen können den Eindruck vermitteln, dass es sich beim Bewusstsein nicht um etwas handelt, was nur von unseren Gehirnzellen produziert wird, sondern was wie ein Feld die ganze Natur durchzieht und dass sich in solchen Momenten innen und außen verbinden. Andere Teilnehmer berichten von dem Eindruck, dass ihr Bewusstsein nicht mehr auf das ‘Haut-umschlossene-Ich’ beschränkt war, sondern schlicht größere Räume umfasste.
Weil außergewöhnliche Bewusstseinszustände nicht zu leugnen sind, hat sich auch die moderne Forschung diesem Phänomen zugewandt. „Wenn das Gehirn mit seinem Zusammenspiel von 100 Milliarden Neuronen wirklich die Bedeutung hat, die ihm in der Neurowissenschaft zugewiesen wird, dann kann es mindestens 10 hoch 2 hoch 11 mögliche (Bewusstseins-)Zustände annehmen“, sagt der Philosph Franz-Theo Gottwald. Die Messung von Gehirnwellen hat ergeben, dass intuitive und visionäre Erfahrungen auftreten können wenn das Gehirn im Zustand tiefer Entspannung bei den vier bis acht Hertz der ‘Theta-Wellen’ schwingt, während die ‘Beta-Wellen’ des normalen Wachbewusstseins 13 bis 30 Hertz haben. Solche Zustände können auftauchen, wenn das analytische Denken aussetzt und durch eine hohe Präsenz für die Gegenwart ersetzt wird .
„Wenn man zu denken aufhört (kommt) man nach einer gewissen Zeit unterhalb oder jenseits des Denkens zu einer Bewusstseinsregion, die sich in Beschaffenheit und Charakter vom gewöhnlichen Denken unterscheidet, einem Bewusstsein von quasi-universaler Qualität. Dadurch erwacht ein umfassenderes Selbst als jenes, an das wir uns gewöhnt haben. Man muss im gewöhnlichen Sinne sterben, doch in einem anderen Sinne gilt es, aufzuwachen und zu entdecken, dass das Selbst, unser wirkliches, intimstes Wesen, das Universum und alle Wesen erfüllt – das die Berge, das Meer und die Sterne Teil unseres Körpers sind und unsere Seele in Verbindung mit den Seelen aller Kreaturen steht. Und es ist gewiss: kommt ein Mensch nur einmal damit in Berührung, wird, wie Abertausende von Fällen zeigen, sein folgendes Leben und seine Weltschau vollkommen revolutioniert.“
Der / die Wildnis-Suchende pendelt zwischen verschiedenen Zuständen hin- und her. Immer wieder ist er in einem gedankenlosen Zustand reinen ‘Seins’, dann wieder reflektiert und analysiert er. Er wandelt zwischen den Welten der Rationalität und dem alles beseelenden Animismus.
„Der Animismus endet in dem Augenblick, wo ich anfange zu denken, weil in dem Moment wo ich denke, trenne ich mich davon ab. Wenn ich verbunden bin mit dem Ganzen, kann ich nicht denken. Denken ist sozusagen eine abstrakte Form des Handelns – ein mich gegenüberstellen von etwas. Wenn ich in der Einbettung bin, bin ich passiv. Aber diese Erfahrung ist nicht in dem Sinn intellektuell erfassbar, sprachlich ausdrückbar. Nur hinterher in der Erinnerung kann man versuchen, es metaphorisch einzufangen.“
Diese Aussage des Quantenphysikers Hans-Peter Dürr macht deutlich, wie schwer das Phänomen außergewöhnlicher Bewusstseinszustände wissenschaftlich zu greifen ist. Dabei sind leichte Trancezustände jedem bekannt: wenn man Musik davon getragen wird, wenn man verliebt tagträumt, wenn ein Buch einen regelrecht einsaugt, wenn man reglos aus dem Zugfenster schaut, wenn man kurz vor dem Einschlafen surreale Bilder wahrnimmt. In einer Wildniserfahrung werden diese Erfahrungen lediglich intensiviert:
„Die Sonne strahlt den Mond an, der Mond strahlt die Bäume an, die Bäume strahlen mich an. Dann blieb ich so stehen, das der Mond, der durch den Wald hinter mir schien, mir ins Gesicht leuchtete, immer unterbrochen von leicht sich wiegenden Ästen. Es vertiefte die Trance, von der ich nichts wusste noch mehr, weil ich leicht hin- und herschaukelte. Licht, Schatten, Licht, Schatten, Licht. Der Mond war ein Ei, das mich ausleuchtete. Ich machte den Mund auf, um Licht zu schlucken, musste lachen. Dann hatte ich das Gefühl, wenn ich das weitermache, hebe ich ab, verliere Erdung. Also habe ich mich umgedreht, dem freien Himmel zu. Wieder eine Sternschnuppe, die zehnte.“ (Alina, 34)
Die Trance als Schlüssel
Für Dieter Vaitl, den Leiter des Instituts für Psychobiologie und Verhaltensmedizin an der Universität Gießen, ist die Trance ein Schlüssel zum Verständnis veränderter Bewusstseinszustände. Er fand heraus, daß sich in der Trance der Gehalt an Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol im Blut verringert, der Blutdruck absackt und der Puls sich erhöht. Die Medizin spricht von einem ‘paradoxen Erregungszustand’ weil der Körper diese Prozesse sonst nur in lebensbedrohenden Krisen wie hohem Blutverlust entwickelt. Auch die Wissenschaft erkennt heute an, daß Hallizunogene ebenso wie Fasten, Abgeschiedenheit, Schlafentzug, monotone Reize oder die konzentrierte Aufmerksamkeit alle zu ähnlichen Ergebnissen führen. Die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse durch die Wissenschafts-Journalistin Hania Luczak liest sich wie eine Beschreibung all der subjektiven Eindrücke, von denen Teilnehmer an Visionssuchen berichten:
„Bei Trancezuständen kommt es zu einer Veränderung des Denkens mit subjektiven Konzentrationsstörungen oder dem Gefühl, klarer und schneller zu denken als sonst. Tiefe Entspannung, ein ‘sich-gehen-lassen’, ist oft zu beobachten. Widersprüche bestehen konfliktfrei nebeneinander. Es herrscht eine Art ‘Zeitlosigkeit’, das Körperschema verändert sich, Empfindungen zu fliegen oder zu zerfließen werden beschrieben. Ein Gefühl des Verlustes der Selbstkontrolle tritt auf. Die Stimmungen schwanken stark und sind durch intensive Emotionalität gekennzeichnet. Es kommt zu einer Auflösung der ‘Subjekt-Objekt-Grenze’ und somit zu einem Einswerden des Ichs mit der Umwelt. Am Extrempol der Trance erfolgt eine Veränderung der Wahrnehmung. Die optischen Erscheinungen reichen von einem lebhaften Spiel der Farben und Formen bis hin zu szenischen Abläufen, sogenannten ‘komplexen Halluzinationen’ und ‘Visionen’. Gefühle von Erneuerung und Wiedergeburt sind nicht selten.“
Die Entdeckung biochemischer Vorgänge und die Bestätigung der Trance durch die Wissenschaft als eine normale Form menschlichen Erlebens nimmt diesen Erfahrungen nichts von ihrer Intensität und psychologischen Wirkung. Doch sie kann die Unsicherheit des modernen Menschen dämpfen, der von derartigen Zuständen sonst ahnungslos überwältigt werden kann.
Geseko v. Lüpke und Sylvia Koch-Weser: Vision Quest: Visionssuche: Allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst, Oya-Verlag, www.frei-verbunden-sein.de